Mythos Alltag Das Wartezimmer: Ort der sozialen Kommunikation oder Vorhof zur Hölle?

Blick in das Wartezimmer einer Arztpraxis.
Blick in das Wartezimmer einer Arztpraxis.

Eine Kölner Ausstellung zeigt ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, auf dem Menschen in einem Zahnarzt-Wartezimmer zu sehen sind. Sie haben Angst – und schweigen sich an. Heute kann das Wartezimmer auch ein wichtiger Ort der sozialen Kommunikation sein. Man ist darin nicht mehr ganz so allein – oder aber völlig vereinsamt mit seinen Sorgen.

Eine Szene, wie man sie aus eigener Erfahrung kennt. Jean-François Raffaëlli malt 1878 das „Wartezimmer eines Zahnarztes“. Man sieht zwei Frauen und einen Mann, die offenkundig unter starken Zahnschmerzen leiden und wohl auch ziemlich angstdurchströmt der Behandlung entgegensehen. Alle haben genug mit sich selbst zu tun – und schweigen. Die Zeitschriften auf dem Tisch, wie wir sie ebenfalls aus heutigen Wartezimmern kennen, bleiben unberührt. Zu sehen ist das Bild in der Ausstellung „1863 – Paris – 1874: Revolution in der Kunst“, die das Kölner Wallraf-Richartz-Museum noch bis zum 28. Juli präsentiert – zusammen mit Werken von Claude Monet, Edgar Degas, Alfred Sisley, Édouard Manet, Paul Gauguin und vielen anderen Malern.

Das Wartezimmer der Landarztpraxis

Wenn man auf dem Dorf groß geworden ist und mittlerweile auch wieder in einer ländlichen Gemeinde lebt, hat man jedoch auch ganz andere Erfahrungen in den Wartezimmern der Landärzte gemacht. Sie sind auch Orte der Begegnung, der sozialen Kommunikation. Vor allem ältere Menschen, deren Partner oder Partnerin vielleicht schon gestorben ist, suchen den Kontakt. Man geht zum Arzt, weil man krank ist – aber auch, weil man alleine ist. Oder aber: Man ist krank – weil man so alleine ist.

Jean-François Raffaëllis Gemälde „Wartezimmer eines Zahnarztes“ aus dem Jahr 1878.
Jean-François Raffaëllis Gemälde »Wartezimmer eines Zahnarztes« aus dem Jahr 1878.

Es trifft sich eine Art Solidargemeinschaft der Gebrechlichen, aber eben auch der sozial weitgehend Isolierten. Endlich begegnet man Leidensgenossen, kann man sich austauschen über die eigenen Wehwehchen, zuhören, Ratschläge erteilen. Man ist nicht mehr allein mit einem Alltag, der immer beschwerlicher wird. Und auch wenn einem im Alter vor allem die eigenen Gebrechen als Gesprächsthema geblieben sind, die kommunikative Therapie wirkt mindestens so gut wie die vom Arzt verordnete. Zumindest in den Fällen, in denen es sich nicht um eine schwere Erkrankung handelt.

Volle Wartezimmer gibt es auch bei den Jobagenturen.
Volle Wartezimmer gibt es auch bei den Jobagenturen.

Natürlich gibt es auch Menschen, für die das Wartezimmer zu einer Art imaginierter Vorhölle wird. Das Warten zieht sich schier unerträglich in die Länge – und man erwartet immer nur das Schlimmste. Die böse Nachricht, an die man schon glaubt, bevor man sie überhaupt übermittelt bekommen hat. Solche Menschen suchen noch nicht einmal den Augenkontakt zu den anderen Patienten, vielleicht auch, weil sie diese um ihre vermeintlich leichte Erkrankung beneiden und dies nicht zeigen wollen.

Während der Wirtschaftskrise 1923 wurden die Patienten gebeten, ihre Briketts selbst mizubringen.
Während der Wirtschaftskrise 1923 wurden die Patienten gebeten, ihre Briketts selbst mizubringen.

Für andere wiederum ist das Wartezimmer spätestens seit der Pandemie zu einem kontaminierten Raum geworden. Ein Ort, an dem überall Viren und Bazillen lauern und nur darauf warten, einen quasi hinterrücks anzuspringen. Am liebsten würden diese Besorgten in einem Ganzkörper-Anzug den Warteraum betreten, und angesichts des Umstandes, dass Corona zwar kein Thema mehr, gleichwohl aber immer noch vor allem für Risikogruppen eine Bedrohung ist, kann man ihnen das Tragen zumindest einer Maske auch überhaupt nicht verdenken. Die ausliegenden Zeitschriften, die zu jedem Wartezimmer gehören wie das Aquarellgemälde einer meist immerhin bemühten Künstlerin oder eines Künstlers, rührt diese Gruppe von Arztbesuchern natürlich nicht an.

In der Pfalz geht man ja nicht zum Arzt, eher zum Doktor. Eigentlich aber „bei de Doktor“. Und man freut sich auf diesen – sofern, wie gesagt, die gesundheitlichen Probleme nicht tatsächlich bedrohlich sind – wie auf den Kirchgang am Sonntag und den darauffolgenden Frühschoppen in der Dorfkneipe. Zumindest war das früher so, als es noch Dorfkneipen gab. Diese sind in den meisten Regionen leider verschwunden, und es gibt nicht wenige Mahner, die für die Landarztpraxen dasselbe Schicksal prophezeien.

Ist das Wartezimmer zu, ist die S-Bahn voll

Für den täglich mit der S-Bahn von der sozusagen falschen, nämlich badisch besetzten Rheinseite zu seinem Arbeitsplatz in Ludwigshafen pendelnden Journalisten spielen vor allem die Öffnungszeiten der Arztpraxen und damit auch der Wartezimmer eine nicht unerhebliche Rolle. Mittwochs haben viele Praxen geschlossen, der Treffpunkt Wartezimmer kommt für die Tagesplanung vor allem der Rentnerinnen und Rentner also schon mal nicht in Frage. Also beschließen offensichtlich alle, einen Wandertag in der Pfalz zu verbringen. Die Folge: Ein Sitzplatz in der S-Bahn bleibt ein unerfülltes Sehnen. Und sollte man doch einen ergattert haben, knallen nicht selten schon morgens um halb zehn die Sektkorken, werden Brezeln rumgereicht. Wenn es gut läuft. Wenn nicht, dann sind es Leberwurstbrote, welche die S-Bahn in eine olfaktorische Hölle verwandeln. Nicht, dass man als Pfälzer etwas gegen Winzersekt und Leberwurst hätte. Aber doch bitte nicht morgens um halb zehn! Und man wünscht sich ganz weit weg aus dem S-Bahn-Abteil, vielleicht sogar in ein Wartezimmer.

Mittwochs bleiben die Praxen geschlossen – weil der Arzt auf Fortbildung ist.
Mittwochs bleiben die Praxen geschlossen – weil der Arzt auf Fortbildung ist.

Nun gibt es Wartezimmer ja nicht nur bei Hausärzten, Zahnärzten oder sonstigen medizinischen Einrichtungen. Wer einmal Kafka gelesen hat, der weiß, welche Hölle einen in den Vorzimmern von Behörden und Ämtern erwarten kann. Man sitzt da, der Blick wandert immer von der Nummer in der Hand auf die digitale Anzeige an der Wand, doch die mathematische Differenz zwischen beiden Zahlen, sie will und will einfach nicht kleiner werden. Und das Leben rinnt unerbittlich dahin, nur damit man, endlich aufgerufen, erfahren muss, dass noch immer ein Formular unvollständig ausgefüllt ist. In den Wartezimmern deutscher Ämter kann man quasi körperlich erfahren, dass der Staat Preußen längst nicht mehr offiziell existiert, dennoch aber offensichtlich fortzuleben gedenkt.

In der Politik spricht man ja auch vom Wartezimmer der Macht. Früher saß da ein gewisser Gerhard Schröder und wartete darauf, bei einem Dr. Kohl eingelassen zu werden, verlor dabei jedoch die Geduld und rüttelte ungestüm an der Eingangstür zum Behandlungszimmer, also eigentlich am das Bonner Kanzleramt schützenden Zaun. Heute ist dieses Wartezimmer in Teilen eher eine Geisterbahn. Oder ein Horrorkabinett, in dem Björn Höcke mit den Füßen scharrt und man ihm alles Zahnweh dieser Welt wünscht.

Grönemeyers „Wartezimmer der Welt“

„Man weiß zwischendurch nicht mehr warum / Man überhaupt hier gemeinsam so sitzt / Tatenlos hofft man zusammen klamm auf Besserung / Und so warten wir.“ So beginnt der Song „Wartezimmer der Welt“ von Herbert Grönemeyer. Und der oft – und ebenso oft ungerechterweise – für seine Texte geschmähte Musiker beschreibt hier sehr treffend die philosophisch-existenzielle Komponente des Ausharrens. Denn das Wartezimmer kann man durchaus ganz und gar desillusioniert als Metapher für das Leben verstehen. Im Grunde ist das Leben nämlich ein einziges Warten: auf die Volljährigkeit, auf die Beförderung, darauf, dass sie oder er endlich ja sagt, auf die Rente. Wir warten und warten in unserem Lebenswartezimmer, und sei es darauf, dass uns das Leben doch endlich einlässt, dass es beginnen möge. Und dann ist es aber auch schon vorbei.

Das Leben als Warten auf die letzte Frage, auf die kein Arzt eine Antwort weiß. Und wenn die Tür dann aufgeht, endlich, dann können wir nur hoffen, dass wir die richtige Frage gestellt haben und eben nicht die falsche Antwort bekommen.

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