Kreis Germersheim „Ich werde behandelt wie alle Azubis“

Hagenbach. Marie-Louise ist Azubi an der IHK-Karlsruhe und Rollstuhlfahrerin. Ihre Schullaufbahn begann noch vor dem Aufkommen der Inklusion. Die allmählichen Verbesserungen an Schulen und in der Gesellschaft fallen mit ihrer persönlichen Erfolgsgeschichte zusammen, die hart erarbeitet ist.

„Es hat sich viel getan in den letzten 15 Jahren“, so Elke Jörgers Fazit zum Thema Inklusion an Schulen, „aber wir haben auch lange dafür gearbeitet“. Ihre Tochter Marie-Louise hat „infantile Zerebralparese“. Wegen einer Frühgeburt sind Muskeln gelähmt oder verkrampft, manche Bewegungsabläufe dadurch schwierig. Für gewöhnlich sitzt sie im Rollstuhl.

Als Marie-Louise 1997 eingeschult wurde, baute die Heinbuchenschule in Hagenbach für sie extra eine Rampe zum Gebäude, „Integrationshelfer“ gab es noch nicht. Damals betreuten Zivildienstleistende das junge Mädchen im Schulalltag. „Die saßen dann manchmal mit der Bildzeitung im Unterricht und die Lehrer haben bald einen Föhn bekommen“, erinnert sich Elke Jörger.

Die ersten zwei Schuljahre seien „ganz schön chaotisch“ gewesen. Die Anfänge der Inklusion an Schulen ab der Jahrtausendwende, als Marie-Louise bereits die Integrierte Gesamtschule (IGS) in Kandel besuchte, waren schwierig. Schon die Bewilligung von Integrationshelfern war für die alleinerziehende Mutter ein Kampf mit den Behörden. Ohne das Wissen des Vereins „Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen“ im Rücken hätte sie es nicht geschafft. „Es war richtig hart“, sagt sie. Integration sei Arbeit.

Letztlich hat sich das Ringen um Integration für Marie-Louise ausgezahlt. An der Berufsbildenden Schule (BBS) in Wörth schaffte sie innerhalb von zwei Jahren ihren Realschulabschluss als eine der Klassenbesten und wurde vom Landrat mit einem „Förderpreis für engagierte Schüler“ ausgezeichnet. Für sie als erste Rollstuhlfahrerin an der BBS baute die Schule ein behindertengerechtes WC. Auch ihre Mitschüler hat Marie-Louise in guter Erinnerung. Die hätten Verständnis dafür gehabt, dass sie aufgrund motorischer Schwierigkeiten etwas langsamer schreibt und deshalb auch mehr Zeit bei Klassenarbeiten bekam.

Nicht nur schulisch hat Marie-Louise Kampfgeist bewiesen. Im Jahr 2000 wagte man eine aufwendige Operation: Aus ihrem Becken „bauten“ die Ärzte ein Fußgewölbe auf, das sich wegen der mangelnden Bewegung vorher nicht bilden konnte. „Eine Riesen-OP über mehrere Stunden, zwei Ärzte arbeiteten gleichzeitig“, so die Mutter. Seitdem kann ihre Tochter jetzt mit Hilfsmitteln stehen, laufen und sogar Treppen steigen.

Auch Reiten tut ihr gut. Bereits mit vier Jahren saß Marie-Louise im Sattel – damals noch unter rein therapeutischen Gesichtspunkten. Heute ist es ihr Lieblingshobby, seit zwei Jahren habe sie große Fortschritte gemacht und kann etwa traben oder durchs Gelände reiten.

Möglich wurde die neue Beweglichkeit aber nicht allein durch die Operation, sondern anschließender, jahrelanger Krankengymnastik. Zweimal pro Woche trainierte Marie-Louise unter Anleitung einer Physiotherapeutin. Eigentlich sollte sie dieses Training fortsetzen, aber dafür fehlt ihr jetzt schlicht die Zeit – denn Marie-Louise geht arbeiten.

Nach einem einjährigen Berufskolleg für Gesundheit und Pflege an der an der Elisabeth-Selbert-Schule in Karlsruhe befindet sich die 23-jährige zurzeit im dritten Lehrjahr einer Ausbildung zur „Kauffrau für Bürokommunikation“ an der dortigen IHK. Obwohl sie hier die Erste mit Einschränkung ist, funktioniere es wunderbar, sagt Marie-Louise. „Ich wollte von Anfang an keine Sonderbehandlung und werde tatsächlich wie jeder andere Azubi auch behandelt.“ Außerdem seien die Kollegen sehr nett und hilfsbereit. Als es Probleme mit dem Schloss der Behindertentoilette gab, wurde es innerhalb einer Woche ausgetauscht. Kollegen achten darauf, dass sie nicht zu lange auf den Fahrstuhl warten muss. Marie-Louise ist hier nicht nur sehr zufrieden, sondern auch ehrgeizig: Im letzten Halbjahreszeugnis hatte sie einen Notendurchschnitt von 1,6. „Am liebsten würde ich nach der Ausbildung von der IHK übernommen werden, das wäre optimal“, meint sie.

Dass sie an einem Ort wie der IHK arbeiten kann, hätte sich Marie-Louise vor 15 Jahren nicht vorstellen können. Andererseits habe sie sich in ihrer Schullaufbahn auch nie Gedanken über einen anderen Weg als den der Inklusion gemacht. „Es ist mit der Zeit leichter geworden“, so ihr Fazit. In der Gesellschaft sei man schon weit gekommen, aber noch nicht am Ziel. So gibt es etwa im ÖPNV immer noch kleinere Bahnhöfe, die nicht behindertengerecht sind.

Vor allem aber wünscht sich Marie-Louise, dass auch die letzten Barrieren in den Köpfen der Menschen fallen. Noch immer reagieren manche Leute verunsichert auf die junge Frau im Rollstuhl, etwa beim Ein- und Aussteigen mit der Bahn, aber das regt sie nicht mehr auf - „Ich kann es ja nicht ändern. Ich versuche immer, das Beste aus der Situation zu machen.“

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