Politik Das Schlachtfeld stiftet Identität

Ins Rheinland ist es von Belgien aus nicht übermäßig weit. Auf die Idee, am 11.11. ausgelassen den Beginn der fünften Jahreszeit zu feiern, käme auf belgischer Seite dennoch niemand. Zwar steht dort sogar ein offizieller Feiertag im Kalender, aber einer, an dem die Belgier sich an den 11. November des Jahres 1918 erinnern, als endlich die Waffen schwiegen.

Mehr als andernorts, mehr als in Deutschland zumal, hat sich der Erste Weltkrieg tief ins kollektive Gedächtnis von Flamen und Wallonen eingegraben – und die Identität des Elf-Millionen-Einwohnerlandes geprägt. Als das deutsche Kaiserreich am 2. August 1914 dem kleinen Nachbarland den Krieg erklärte, zwei Tage später seine Armee über die Grenze schickte und die Stahlmetropole Liège angreifen ließ, war das für das kleine, junge Land ein unfassbarer Schock. Seine Neutralität, die geradezu Vorbedingung der Staatsgründung 1830 gewesen und unter anderem von Deutschland garantiert worden war, wurde quasi über Nacht hinweggefegt – Belgien wurde zum ersten Schlachtfeld des Ersten Weltkrieges. „Er hat nicht nur die flämische Landschaft verändert, wo noch heute die Bombenkrater zu erkennen sind“, sagt Jean-Arthur Régibeau, der im Außenministerium die Veranstaltungen in diesem Gedenkjahr organisiert, „sondern auch unser Denken.“ Er meint das auch in Bezug darauf, dass Belgien neben Luxemburg heute das einzige Land ist, dass aktiv für föderal organisierte Vereinigte Staaten von Europa eintritt – und nicht nur, weil seine Hauptstadt auch die europäische ist. „Wenn sich Deutschland und Frankreich bekriegen, leidet Belgien“, sagt Régibeau: „Wir kennen den Preis ohne Europa.“ Entsprechend irritiert ist man, dass alle EU-Staaten für sich feiern und keine gemeinsame Gedenkveranstaltung organisiert bekommen haben – wo doch aus Sicht der Belgier der Erste geradewegs in den Zweiten Weltkrieg geführt und als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts erst die Notwendigkeit des europäischen Einigungswerkes begründet hat. „Wir sollten uns gemeinsam erinnern“, sagt der belgische Diplomat: „Das ist die Botschaft, die wir dieses Jahr verbreiten wollen.“ Zwei Staatsakte mit internationaler Beteiligung sind daher geplant. Der erste findet am 4. August in Liège statt, Lüttich also. Angesagt haben sich neben dem neuen belgischen König Philippe auch Bundespräsident Joachim Gauck und Frankreichs Staatschef François Hollande. Sie werden auch am 28. Oktober im westflämischen 35000-Einwohner-Städtchen Ypern erwartet, das – neben Verdun – zum Symbol schlechthin für das Jahrhundertgemetzel wurde. Am 28. Oktober 2014 endete hier der Vormarsch der deutschen Truppen und ging in einen jahrelangen, extrem blutigen Stellungskrieg über. Hier setzten des Kaisers Soldaten erstmals Senfgas ein, weshalb mit dem Wort „Yperit“ im Französischen bis heute Giftgas gemeint ist. Und bis heute ertönt in Ypern Abend für Abend eine Trompete – zu Ehren der Toten. Die Bedeutung des „Großen Krieges“ (La Grande Guerre) für Belgien hat auch damit zu tun, dass er mehr Stoff für Heldengeschichten liefert als der Zweite Weltkrieg, als Belgien innerhalb weniger Tage überrannt wurde und vor Hitlers Wehrmacht kapitulieren musste. „Daran erinnern wir uns weniger gern“, sagt Régibeau. Zwischen 1914 und 1918 blieb zwar nur ein kleiner „letzter Fetzen des Königreichs“ hinter der Frontlinie entlang dem Fluss Yser unbesetzt, wie die Historikerin Laurence van Ypersele von der Uni Leuven schreibt. Doch reichte dieses Zipfelchen Land, wo Belgier zusammen mit den Alliierten den Deutschen zumindest Einhalt geboten haben, um Stärke daraus zu beziehen – und um den grausamen Erfahrungen mit dem deutschen Regime im besetzten Belgien etwas Positives gegenüberzustellen. „Heldentum und Martyrium“ machten seither die belgische Identität aus, schreibt van Ypersele. Belgien wäre aber nicht Belgien, wenn der flämisch-wallonische Sprachenstreit sich nicht auch in der Erinnerungskultur spiegeln würde. So sorgte im Vorfeld der Planungen für Ärger unter den Flamen, dass sich die wallonische Tourismusbehörde erst gar nicht so recht für das Gedenkjahr 2014 ins Zeug legte, sondern vielmehr auf das darauffolgende Jahr konzentrierte, wenn sich die Schlacht von Waterloo gegen Napoleon zum 200. Mal jährt. Sofort wurde wieder die Geschichte bemüht: Viele Niederländisch sprechende Flamen hätten allein deshalb den Tod gefunden, weil sie die ausnahmslos auf Französisch vorgetragenen Befehle der vor allem aus der Wallonie stammenden Offizierskaste nicht verstanden hätten, hieß es in Flandern. „Das ist ein Mythos“, sagt Régibeau. „Die Menschen haben überall gelitten, ob nun in Flandern oder der Wallonie – da gibt es keinen Unterschied.“

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