Politik Emmanuel Macron: Halb Frankreich glaubt an ihn

So entschlossen Emmanuel Macron auch losgestürmt ist: Der Lohn der Reformen steht ein Jahr nach seiner Wahl zum Präsidenten noch aus. Aber immerhin glauben die Franzosen noch daran, dass der junge Staatschef das Blatt zum Besseren wenden kann. Halb Frankreich zeigt sich optimistisch. Die andere Hälfte allerdings sieht schwarz.

Auch das wäre ihm zuzutrauen gewesen. Emmanuel Macron hätte in Prokofjews „Peter und der Wolf“ die Ente spielen können oder die Katze. Am Ende entschied er sich für die Rolle des Sprechers. Und wie Zuschauer des kürzlich im Festsaal des Elysée-Palasts vor Dienstpersonal und sozial benachteiligten Kindern aufgeführten musikalischen Märchens versichern: Frankreichs Staatschef hat überzeugt. Macron weiß sich in Szene zu setzen. Als Jugendlicher schon schlug er das Publikum in Bann. Der Dokumentarfilmer Pierre Hurel, der Theaterauftritte Macrons am Providence-Gymnasium von Amiens festgehalten hat, schwärmt noch heute: „Er ist ein Verwandlungskünstler, vergleichbar dem legendären Leopoldo Fregoli.“ Mittlerweile steht Macron vor allem als sozialliberaler Reformer im Rampenlicht. Vor einem Jahr zum Staatschef gewählt, trat er am 14. Mai an, Frankreich von Grund auf zu erneuern. Doch der Nachweis, dass die im ganzen Land eingeleiteten Reformen Gewinn abwerfen, Gewinn für alle Franzosen zumal, ist nicht erbracht. „Unsere Reformen reißen etablierte Strukturen ein, ohne dass die Franzosen bisher konkret etwas davon haben“, stellt Gilles Le Gendre frustriert fest, stellvertretender Fraktionschef der Regierungspartei La République en Marche. Von den Neuerungen, die Macron als essenziell ausgewiesen hat, ist allein die Arbeitsmarktreform unter Dach und Fach. Aber auch für sie gilt: Der verheißene Fortschritt hat sich noch nicht eingestellt. Aus Sicht der Beschäftigten hat die Reform bisher Unsicherheit und finanzielle Einbußen gebracht: Angestellte können leichter auf die Straße gesetzt werden, im Kündigungsfall ist die Höhe der Entschädigung nun gedeckelt. Dass bereitwilliger einstellt, wer Personal im Krisenfall wieder entlassen kann, stimmt zwar ebenfalls. Zu einer spürbaren Entlastung auf dem Arbeitsmarkt dürfte dies nach Ansicht von Wirtschaftsexperten aber frühestens in zwei Jahren beitragen. Für die seit Anfang April mit Streiks und Protesten bekämpfte Reform der Staatsbahn SNCF gilt das Gleiche. Am Anfang des Reformprozesses steht die Abschaffung von Privilegien des Personals. Am Ende tut sich die Chance auf, aus der mit fast 50 Milliarden Euro verschuldeten SNCF ein international konkurrenzfähiges Verkehrsunternehmen zu machen. Uns so muss Macron seine Landsleute ohne handfeste Ergebnisse von sich und seiner Arbeit überzeugen. Dass der 40-Jährige sich aufs Inszenieren versteht, kommt ihm dabei zupass. Bild- und wortreich illustriert er, dass das Reformabenteuer gut ausgehen wird, sehr gut sogar. Am Ende der Renovierungsarbeiten wird das baufällige Haus Frankreich vom Keller bis zum Dachboden in neuem Glanz erstrahlen, werden seine Bewohner auf der Weltenbühne selbstbewusst mitreden. Das ist die Botschaft. Am Abend des Wahlsiegs hatte Macron seine Landsleute darauf eingestimmt, dass sie Großes von ihm erwarten dürfen. Vor der Glaspyramide des Louvre versprach er den Aufbruch zu neuen Ufern. Zu den Klängen der Europahymne lagen sich die Menschen freudetrunken in den Armen. Eine Woche später rollte der Präsident zum Amtsantritt im Militärwagen die Champs-Elysées hinab, gab zu verstehen, dass er nicht nur mit der Machtvollkommenheit eines Monarchen ausgestatteter Staatschef ist, sondern auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte, dass er kompromisslos zur Sache gehen wird. Den Beinamen Jupiter trug ihm das ein. Kürzlich überraschte Macron mit Bildern aus der Grundschule des bretonischen Weilers Berd’huis. In einem Klassenzimmer hockte der Staatschef mehr schlecht als recht auf einem Plexiglasstuhl, gab ein einstündiges TV-Interview. Ich bin nicht nur der Präsident der Städte und der Start-ups, sollte das heißen, ich kümmere mich auch um die Franzosen draußen auf dem Lande. Es folgten Szenen von der anderen Seite des Atlantiks. Sie zeigten den Präsidenten und seinen US-Kollegen Donald Trump in enger Männerfreundschaft. Der Franzose ist ein dem Amerikaner ebenbürtiger Weltenlenker, besagten die Bilder. Ein Bild mag Macron besonders: das der Seilschaft. Immer wieder bemüht er es. Diejenigen, die an vorderster Stelle den Berg hinaufklettern, ziehen die Nachfolgenden mit, pflegt der Staatschef zu versichern. Anders gesagt: Indem er im ersten Amtsjahr die Kapitalertragssteuern gesenkt, die Vermögenssteuer weitgehend abgeschafft oder auch die Sozialabgaben reduziert hat, können von finanzieller Last befreite Investoren zu neuen Höhen aufbrechen und den Rest der Nation mit hinaufziehen. Der Bilderreigen scheint im kollektiven Bewusstsein angekommen zu sein. Stewart Chau, Soziologe und Meinungsforscher am Institut Viavoice, hat wachsende Zuversicht ausgemacht. Hatten 2013 noch 66 Prozent der Bevölkerung den Niedergang des Landes beklagt und die Franzosen damit als pessimistische Nation Europas ausgewiesen, sind es laut einer Ende April veröffentlichten Viavoice-Umfrage heute nur noch 49 Prozent. Chaus Lebensweg scheint Macrons These von der Seilschaft zu belegen. In atemberaubendem Tempo ist der Sohn kambodschanischer Flüchtlinge von unten nach ganz oben geklettert. Ein vor ihm Kletternder hat ihn mit hinaufgezogen. „Mein Stiefvater, der sich seit der Trennung meiner Eltern um mich kümmert, hat mir die für den Erfolg notwendigen gesellschaftliches Codes vermittelt“, erzählt Chau. Nach der Schule hat er an der Pariser Elitehochschule für Sozialwissenschaften EHSS studiert und ist nun mit 24 Jahren Berater bei Viavoice. Fragt sich, ob Chaus Lebensweg zum Modell taugt, ob die Gesellschaft nach Art einer Seilschaft auf ein höheres Niveau gelangen kann. Der junge Mann im blauen Blazer macht große Augen, lächelt ungläubig, schüttelt den Kopf. „Non, non, non“, sagt er. Von Parallelwelten spricht er, von kaum überwindbaren gesellschaftlichen Gräben. Auf der einen Seite schritten diejenigen, die glaubten, vom verheißenen Fortschritt profitieren zu können. Auf der anderen Seite blieben diejenigen zurück, die sich vom Fortschritt abgehängt fühlten. Auch davon kündet die Erhebung. Demnach sind es in erster Linie junge, wohlhabende Menschen aus Frankreichs Metropolen, die in Optimismus schwelgen. In ländlichen Orten wie auch in der Arbeiterschaft ist die Zuversicht deutlich geringer. Fehlendes soziales Mitgefühl gilt als größter Schwachpunkt des Staatschefs. Gefragt, ob Macron ein „Präsident der Reichen“ sei, hat der glücklose Amtsvorgänger Francois Hollande vor ein paar Tagen gesagt: „Macron ist nicht der Präsident der Reichen, er ist der Präsident der sehr Reichen.“ Dass die Einschätzung von Rachegefühlen gegenüber dem abtrünnigen ehemaligen Wirtschaftsminister geprägt sein dürfte, macht die Replik für Macron nicht einfacher. Solange sozial Schwache von ihm nicht profitieren, ist der Vorwurf schwer zu entkräften. Hinzu kommt: Mit 49 Prozent Pessimisten verweigert noch immer fast die Hälfte der Nation dem Fortschrittsglauben predigenden Staatschef die Gefolgschaft. Ein Teil der Unzufriedenen macht mobil. Philippe Martinez, Chef des ehemals kommunistischen Gewerkschaftsdachverbands CGT und profiliertester Macron-Gegner, marschiert vorneweg. Ein alter Kämpe ist er. Die Augen zu Schlitzen verengt, die Arme wehrhaft vor der Brust verschränkt, trotz frühlingshafter Temperaturen einen Wollschal um den Hals, führte er kürzlich die Pariser Mai-Kundgebung an. Mit leiser, fester Stimme rief der 57-Jährige dazu auf, „der von Macron betriebenen Zerstörung des Sozialstaats mit vereinten Kräften ein Ende zu machen“. „Dieu“, pflegt Martinez seinen Widersacher spöttisch zu nennen, „Gott“. Der Gewerkschaftsboss hofft, dass sich im ganzen Land aufflammende Proteste zu einem Flächenbrand verbinden. Doch dazu wird es wohl nicht kommen. Gesellschaftliche Fragmentierung, das heißt auch: Ein jeder verfolgt seine spezifischen Branchen-, Gruppen-, Individualinteressen. Wären am Sonntag Präsidentschaftswahlen, Macron hätte nichts zu befürchten. Er würde sie laut Umfragen klar für sich entscheiden. Die Verlierer des vergangenen Jahres haben sich nicht aufgerappelt. Der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon (La France Insoumise), die Rechtspopulistin Marine Le Pen (Front National), die Sozialisten unter ihrem neuen Vorsitzenden Olivier Faure und die konservativen Républicains mit Laurent Wauquiez an der Spitze: Glaubhafte politische Alternativen sind sie schuldig geblieben. Macron steht besser da. Halb Frankreich glaubt an ihn.

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... Tennis spielend auf der Brücke Alexandre III in Paris und ...
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... mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in der Schlachtengalerie im Schloss Versailles.
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