Politik Notwendiger Krieg oder vermeidbare Katastrophe?

Schärfer könnte der Kontrast nicht ausfallen. Während in Deutschland am 11. November um elf Minuten nach elf Uhr der Karneval ausgerufen wird, ist der „Armistice Day“ in Großbritannien ein offizieller Trauertag. Wenn die „elfte Stunde des elften Tags des elften Monats“ schlägt, steht die Nation still für ein zweiminütiges Schweigen: Die Briten gedenken des Endes des Ersten Weltkriegs.

Anders als in Deutschland, wo der Zweite den Ersten Weltkrieg völlig überschattet, ist im Königreich der „Große Krieg“ immer noch präsent. Am „Remembrance Sunday“, dem zum 11. November nächstgelegenen Sonntag, legt die Queen zusammen mit den Vorsitzenden aller politischen Parteien einen Kranz am Londoner Denkmal für die Gefallenen nieder, und jeder trägt die „Poppy“, die blutrote Mohnblume, am Revers. Das Britische Empire, vor 100 Jahren noch Weltmacht Nummer eins, die über ein Viertel des Globus regierte, hatte rund 1,15 Millionen Tote und über zwei Millionen Kriegsverletzte zu beklagen. Das Trauma des Blutzolls ist bis heute spürbar. Während den Briten der Kampf gegen Hitler-Deutschland als „gerechter Krieg“ gilt und bis heute martialische Begeisterung auslösen kann, nähren die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs auch pazifistische Neigungen: Zu groß waren die Opfer, zu absurd die Rechtfertigungen der militärischen Führung, zu schmerzlich die Verluste. Die Satireserie „Blackadder“ bringt diese Sicht auf den Punkt. Mit Galgenhumor behandelt sie das Thema des Verheizens der Truppen an der Front in Frankreich durch unfähige Generäle. Man habe, stellt Captain Blackadder fest, „nicht mehr Fortschritte gemacht als eine asthmatische Ameise mit schweren Einkaufstüten“. Premierminister David Cameron setzte sich gewaltig in die Nesseln, als er kürzlich forderte, dass die Veranstaltungen des Gedenkjahrs 2014 „zeigen sollen, so wie es zuvor schon die Feiern zum diamantenen Thronjubiläum von Queen Elizabeth getan haben, wie wir Briten sind“. „Nur ein kompletter Idiot würde den Beginn dieser Kalamität feiern wollen“, kommentierte der BBC-Journalist Jeremy Paxman diese mit 50 Millionen Pfund an Steuergeldern subventionierten Feiern. Das saß. Seitdem tobt in Großbritannien ein Kulturkampf: Intellektuelle und Politiker, Schauspieler und Akademiker, Leitartikler und Leserbriefschreiber streiten sich darüber, wie der Erste Weltkrieg zu deuten ist: als notwendiger Krieg oder vermeidbare Katastrophe? Anfang des Jahres mischte sich Bildungsminister Michael Gove ein. Er wandte sich scharf gegen „linke Akademiker“, die den Mythos propagierten, dass der Erste Weltkrieg eine „scheußliche Schlachterei“ gewesen sei, „eine Serie von katastrophalen Fehlentscheidungen einer realitätsfernen Elite“. Nein, schrieb Gove, er sei ein „edles Unterfangen“, ein „offensichtlich gerechter Krieg“ gewesen, weil man sich gegen „den rücksichtslosen Sozialdarwinismus der deutschen Eliten, das erbarmungslose Besatzertum, ihre aggressiven expansionistischen Kriegsziele und ihre Verachtung internationaler Ordnung“ habe wehren müssen. Der bildungspolitische Sprecher der Labour-Opposition, Tristram Hunt, warf Gove die Politisierung des Gedenkjahrs vor und wies ihn darauf hin, dass seine Analyse der Kriegsschuld nicht auf der Höhe der wissenschaftlichen Forschung sei. Der Historiker Anthony Beevor tat Goves Tirade als „nationalistische Propaganda“ ab. Zur Seite sprang dem konservativen Hardliner dagegen der Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der von der deutschen Alleinschuld überzeugt ist: „Warum muss man ein bisschen Remmidemmi in Sarajewo gleich mit der Invasion Frankreichs beantworten?“ Das kaiserliche Deutschland, ergänzte der Historiker Max Hastings, sei fast so schlimm wie Nazi-Deutschland gewesen, laut seinem Kollegen Gary Sheffield, „eine aggressive, militaristische, expansionistische, anti-demokratische Nahezu-Autokratie“. Worauf der Kolumnist Seamus Milne erwiderte, dass man diese Attribute auch dem edwardianischen England zuschreiben könne: Letztlich habe es sich um einen Machtkampf zwischen Weltreichen gehandelt, bei denen es nicht viele Unterschiede gegeben habe.

x