Kultur Südpfalz Das Lob der Durchschnittlichkeit

Dass es dieser Roman noch nicht einmal unter die 20 Finalisten des Deutschen Buchpreises 2014 geschafft hat, macht die Jury dieses wichtigsten deutschen Literaturpreises mehr als verdächtig: Michael Kleebergs „Vaterjahre“ ist ein Meisterwerk, das vielleicht die gelungenste literarische Auseinandersetzung mit den 1990er Jahren darstellt – von der deutschen Einheit bis zu den Attentaten auf das New Yorker World Trade Center 2001.

Karlmann, genannt Charly, Renn ist bestimmt die unspektakulärste Hauptfigur der deutschen Gegenwartsliteratur. Und er ist ein alter Bekannter, schließlich hat ihn uns sein Autor bereits als Anti-Held der 1980er Jahre präsentiert: Zu einer Zeit, als ein gewisser Boris Becker erstmals Wimbledon gewann, eroberte sich Charly die Hanse-Metropole Hamburg. Mehr durch Glück als durch wirkliche Begabung. In den 1990er Jahren hat Charly Renn bereits eine erste gescheiterte Ehe hinter sich. Er ist, wie man so schön sagt, gereift am Leben. Man könnte es auch so formulieren: Er ist zu einem entsetzlichen Spießer geworden. Guter Job, Reihenhaus vor den Toren Hamburgs, schöne Frau, zwei Kinder. Alles gut. Nie war ein Romanheld langweiliger, banaler, blasser. Und Kleeberg stimmt es dennoch mit Verve an, mit sprachlichen Tausendsassa-Fähigkeiten auch: das Hohelied der Mittelmäßigkeit. Das Lob der Durchschnittlichkeit. Es lebe die Alltäglichkeit, mit all ihren Verwerfungen, ihren immer seltener werdenden intensiven Glücksmomenten, mit immer weniger gutem Sex zwischen Windelstress und Bürohektik und jenen allzu vielen zähen Augenblicken des Stillstands. Das sind dann die Minuten, in denen Charly zurückblickt und sich fragt: „War’s das schon?“ Zwei Tage nur in seinem Leben erleben wir. Der zweite davon ist der 11. September 2001. In New York stürzen die Twin Towers ein, und in Hamburg ist Charly Renn der Held, weil er die alteingesessene hanseatische Firma, deren Geschäftsführer er ist, rettet, indem er alles verkaufen kann, bevor die Kurse endgültig zusammenbrechen. Zuhause muss er Trost spenden und Stärke bewahren. Es gilt, den geliebten Hund Bella einzuschläfern. Die Kinder sind völlig apathisch, dann wieder absolut hysterisch vor Trauer, doch Renn erweist sich als wahres Familienoberhaupt. Er versammelt die Seinen samt Hund um sich auf dem Sofa. Es wird gestreichelt und gekuschelt, es werden Geschichten mit dem Hund als Hauptfigur erzählt. So geht das, bis der Tierarzt kommt, um das todkranke Tier von seinen Schmerzen zu befreien. Der Pathos-Spiegel steigt ziemlich an, gerettet wird die Situation mal wieder vom allwissenden, ständig kommentierend eingreifenden Erzähler, der sein Talent als Ironiker beweist, indem er einfach zu dick aufträgt und Brünnhilde aus Wagners „Götterdämmerung“ zitiert: „So werf ich den Brand/ in Walhalls prangende Burg.“ Die Kinder lernen – viel zu früh, wie Charly meint –, Abschied zu nehmen. Und unser Held fällt todmüde in sein Ehebett und schläft den Schlaf der Gerechten. Mehr ist da eigentlich nicht. Dieses Buch, das so vieles zugleich ist – Zeitroman, Lob der Provinz (der hessischen Heimat der Mutter des Helden), Wenderoman (die Familie seiner Frau stammt aus der DDR) und Hamburg-Roman – ist der Beweis dafür, dass man in deutscher Sprache ebenso erzählen kann wie in der angelsächsischen Literatur. Es muss nicht immer die verkopfte Innerlichkeit sein. Der ganz banale Alltag tut es auch. Und das garantiert einen kaum zu überbietenden Wiedererkennungswert. Denn Michael Kleebergs „Vaterjahre“ ist auch so etwas wie die Bibel der Generation 40 plus. Natürlich mit dem Fokus auf dem männlichen Teil dieser Generation. Die erzählte Geschichte hat Schablonen-Charakter, millionenfach wiederholt. In den zwei Tagen aus dem Leben des Charly Renn kulminiert so etwas wie ein Wendepunkt in der Biographie des Durchschnittsmannes zwischen 40 und 50. Es ist der Eintritt in eine neue Lebensphase, der hier beschrieben wird. Es geht um das Akzeptieren von Verantwortung. Um den Abschied von Freiheit, die Annahme einer Lebensaufgabe. Und diese Aufgabe heißt, so naiv oder konservativ oder spießig oder vielleicht sogar auch kitschig dies jetzt auch klingen mag: Familie. Und damit steht Kleeberg in heftiger Konkurrenz quasi zu allen Zeitgeist-Trends. Eine intakte Familie als Hort der Geborgenheit, der Sicherheit, der Liebe, wirkt in den Themenfeldern der zeitgenössischen Literatur wie ein absoluter Fremdkörper. Geht es doch häufig genug um traumatische Familienerlebnisse, die aus den Helden und Heldinnen gebrochene, versehrte, verletzte, letztlich lebens- und liebesunfähige Menschen machen. Bei Kleeberg ist das ganz anders. Er hat den Mut zur Idylle. Immer ironisch gebrochen, immer auch ein wenig gefährdet, denn wo die Liebe ist, wo das Glück herrscht, da ist auch die Sorge nicht fern. Immer, wenn Charly am glücklichsten scheint, wenn er seine Tochter betrachtet und gar nicht mehr weiß, wohin mit all seiner Liebe für sie, da fällt auch die Angst und die Sorge wie ein Schatten auf seine Gefühle. Doch er zerbricht nicht daran. Er nimmt die Verantwortung an. Auch wenn das, wie im Finale des Romans, mitunter sehr anstrengend sein kann.

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