Kultur 68er von unten

Beck vor Bloch: Dienstagabend in Ludwigshafen.
Beck vor Bloch: Dienstagabend in Ludwigshafen.

Kurt Beck, ein 68er? 2003 erschien dazu in der „taz“ ein sehr aufschlussreiches Porträt. Beck, damals scheidender rheinland-pfälzischer Ministerpräsident, führt darin das Nachwuchsproblem seiner Partei, der SPD, auf das Erbe der 68er zurück. „Zu wenig menschliches Miteinander“, wird er zitiert, „zu viel Taktik. Zu schnelle Einordnung in Lager. Zu große Bereitschaft, herablassend übereinander zu reden“. Die 68er hätten spätere Generationen abgeschreckt, sagt er im Text: „Viele von denen, die danach kamen, haben einfach aufgegeben.“ Er sagt, zum Strang der 68er-Tradition habe er keine eigene Bindung entwickelt. Bei ihm habe zu der Zeit die Hochzeit angestanden und die Geburt des Sohnes. Mit dem Vater habe er „ein Häuschen gebaut, in dem wir auch heute noch leben“. Im „taz“-Porträt von Bettina Gaus steht: „Herausfordernd sagt er das. Als ob einer, der als Funkelektroniker bei der Bundeswehr gewesen ist, verdächtig wäre, zur Studentenbewegung gehört zu haben.“ Heute hört sich das anders an. Das Bloch-Zentrum in Ludwigshafen, Dienstagabend, die Reihen mit den weißen Stühlen. Das Pult, das Bloch-mit-Pfeife-Plakat im Hintergrund. Kurt Beck, der ewige Ministerpräsident, ist zu spät. Der Redner. Es soll um die 68er gehen, das Lichten des Muffs von 1000 Jahren unter Talaren, mittendrin Bloch. Im Haus läuft gerade eine Ausstellung, die den Titel „Remember 68“ trägt. Als Moderator und Diskutant ist der Vize-Präsident der Uni Mainz, Stephan Jolie, geladen, ein Professor für Literatur der älteren Epochen. Etwa 40 Menschen sind das Publikum, ein Dutzend Duz-Freunde des im Februar 70 gewordenen Beck darunter. Sein politischer Markenkern war immer, „nah bei de Leit“ zu sein. Gewichtige Menschen wie Günther Ramsauer, Fraktionschef der SPD im Bezirkstag, sitzen aber auch in den lichten Stuhlreihen. Auch da: Wolfgang Schulte, Ludwigshafens Ex-OB, dazu Gewerkschafter, SPDler, viel Ex-Irgendwas, viel graues Haar. Alle warten. Es wird über das Rentnerdasein gefrotzelt. Jemand sagt: „Bald erscheint meine Doktorarbeit – auf Latein“. 20 Minuten vergehen. Dann tritt Ludwigshafens amtierende OBin Jutta Steinruck ans Mikrofon. Sie müsse gleich wieder weg, sagt sie. Termine. Aber Kurt Beck, ihren „Ziehvater“, wolle sie doch noch begrüßen. So streckt sie also ihre Rede, bis aus dem Treppenhaus die Beck-Stimme hallt. Und schon marschiert der, wie aus einer Zeitschleife getreten, ein. Entourage hinterher. „Du bist mit schuld, dass ich Oberbürgermeisterin bin“, sagt Steinruck noch, fast schon im Gehen. Dann ab. An hebt Moderator Stephan Jolie mit einer kleinen Laudatio über den Musterfall eines sozialdemokratischen Vorzeigelebens. „Eng“ betrachtet, sagt Jolie, sei es das Gegenteil einer 68er-Biografie aus akademischen Milieu. Beck ist Maurerkind, in die Volksschule gegangen, hat eine Lehre als Elektromechaniker bei der Bundeswehr absolviert. Dann Wehrdienst, Mittlere Reife auf dem zweiten Bildungsweg, beruflich-soziales Engagement, Personalrat mit 23, mit 25 im Kreistag, 1979 Landtagsmandat. „Der Rest ist Geschichte“, sagt Jolie und meint vor allem die 19 Jahre als Ministerpräsident, involviert der ungute Rücktritt nach zwei Jahren als Bundesvorsitzender der SPD, deren Friedrich-Ebert-Stiftung er mittlerweile vorsteht. Draußen parkt immer noch eine Limousine mit Chauffeur. Und ja, er sieht gut aus. Die Meckifrisur ist stark abgemildert. Die Krawatte bordeauxrot. Als er anhebt zu sprechen, fühlt man sich für einen Moment, als habe die Zeit eine Rückspultaste. Die Begrüßungszeremonie, der teilgedehnte Beck-Dialekt, das von Bodenständigkeit unterzogene Sprechen. Einen „Buddha mit Sprengzündung“ hat Becks unglückliche jetzige Nachfolgerin als SPD-Bundesvorsitzende, Andrea Nahles, ihn genannt. Ein richtig guter Redner war dieses Urgestein einer versinkenden Welt nie. Etwas dröge beginnt er die zeithistorischen Umstände der 68er-Bewegung und ihre Wirkungen zu skizzieren. Von Hannah Arendts Diktum, über 1968 werde man später einmal sprechen wie über die Paulskirchen-Versammlung 1848. Er zweifelt. Bis hin zu der Hoffnung eines – wie er sagt – „Politikers aus dem Süden“ auf eine „konservative Revolution“, die er, Beck, als Spätfolge von 68 sieht. Und bis zu der Jugendbewegung Fridays for Future, der er wünscht, das so wie die 68er „hinzukriegen“. Und mit so viel Erfolg. Es ist nicht so, dass man, was er jetzt anführt, nicht kenne, also das Lähmende der deutschen Teilung und des Kalten Krieges als Nährboden der Revolution. Den Protest, den der Vietnamkrieg auslöste. Die erhobene Black-Panther-Faust US-amerikanischer Athleten bei den Olympischen Spielen von Mexiko. Der Schah-Protest, der, wie er sagt, „in einer seltsamen Art unterdrückt worden ist“. Et cetera. Flüsternd beginnen manche, was Beck sagt, für ihren Nachbarn zu ergänzen. Interessanter schon, wenn der Politiker von sich zu erzählen beginnt. Auch hinterher in der Diskussion mit Stephan Jolie, der seine Fragen in akademische Kurzreferate kleidet. Wie also in Steinfeld auf der Volksschule nur ein Junge und ein Mädchen eine Gymnasialempfehlung bekamen, die Kinder der reichsten Honoratioren. „Das hat mich schon beschäftigt“, sagt er, der Arbeitersohn. Als Willy Brandts in seiner Antrittsrede davon sprach, mehr Demokratie zu wagen, erzählt er, hätten er und seine Bundeswehr-Kameraden an zu Radioapparaten umfunktionierten Funkgeräten gehört. Er ergriffen. Bald danach hätte er mit Genossen vor den Toren eines patriarchalisch geführten Unternehmens in Edenkoben gestanden, das sich weigerte, Gewerkschaftsmitglieder einzustellen. In Landau hätten sie sich das Jugendzentrum „Schwan“ erst erstritten und es dann wieder „versaubeutelt“, weil ihnen das Politische wichtiger gewesen sei als das Saubermachen. Wenn man so will, entwirft Beck sich beim Reden eine alternative 68er-Biografie. Von unten. Hier der Marsch durch die Institutionen, dort durch die Fabriken. „Wir wollten auch etwas verändern“, sagt er, „aber wir mussten morgens zur Arbeit“. Viele seiner Mitstreiter hätten statt Schlaf für die Sache ihre Existenz riskiert. Schnell ist man beim Kern von Kurt Becks Philosophie. Unausgesprochen eine praktische Anwendung der „Theorie der Anerkennung“, wie sie der Bloch-Preisträger des Jahres 2015, der Professor und Alt-68er Axel Honneth in seinen Büchern und Seminaren formuliert. Honneth spricht von der Anerkennung für andere als Sozialkitt der Gesellschaft. Beck vom Respekt für gut gemachte Arbeit, der gesellschaftlich wichtig sei. Unabdingbar, egal um welche Arbeit es sich handelt. „Respekt können wir nicht in Gesetze und Tarifverhandlungen schreiben“, sagt er. Und dann erzählt er eine Geschichte wie er einmal als Ministerpräsident bei der Müllabfuhr in Herxheim und Neustadt ausgeholfen habe. In voller Montur. Einige Male sei ihm eine Tonne umgestürzt. Alle Passierenden habe er freundlich gegrüßt. Von nicht einmal einem Viertel sei der Gruß erwidert worden. Kein Respekt. Die Leute hätten eben unter der „Kapp“ keinen Ministerpräsidenten erwartet, sagt er. Und dann zieht er noch ein altersweises Resümee. Nur wenn man es „sehr eng“ betrachte, sei er kein 68er. Er lächelt. Also doch.

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