Literatur Das Handwerk des Leidens: Der wiederentdeckte italienische Dichter Cesare Pavese

Die Weinberge rund um Paveses Geburtsort Santo Stefano Belbo im Piemont.
Die Weinberge rund um Paveses Geburtsort Santo Stefano Belbo im Piemont.

Italien also ist Gastland der Frankfurter Buchmesse, das Sehnsuchtsland der Deutschen seit Jahrhunderten. Wer die Alpen überquert und in Italien ankommt, ist wie aus seinem Leben herausgetreten, auf einem neuen Kontinent. Eine der ganz großen (Wieder-)Entdeckungen dort: Cesare Pavese. Sein Werk ist schonungslose Weltliteratur.

Und auf einmal macht es Wumms, und die italienische Literatur ist auf der Weltkarte der Poesie eingezeichnet. Mit drei Dichtern von Ewigkeitswerken. Die Rede ist von den „drei Kronen der italienischen Literatur“ („le tre corone della letteratura italiana“), die zugleich auch am Beginn der italienischen Sprachgeschichte stehen. Ihre Werke, die bis heute unvermindert nachwirken, sorgten dafür, dass sich das Volgare, also die italienische Sprache des Volkes, gegen das bis dahin dominierende Latein durchsetzte.

Die drei Kronen der italienischen Literatur

Die Rede ist von Dante Alighieri, der mit seiner „Göttlichen Komödie“ ein rätselhaftes Ewigkeitswerk beziehungsweise ein ewiges Rätselwerk schuf, ein Höllentrip im wahrsten Sinne des Wortes; von Giovanni Boccaccio, dessen „Dekameron“ – wie sein orientalisches Pendant, die „Märchen aus 1001 Nacht“ – das Erzählen als Existenzform begründet; und schließlich ist da noch Francesco Petrarca, dessen Liebesgesänge an Laura noch heute in der Liebeslyrik nachklingen.

Diese Autoren des 14. Jahrhunderts sind präsent, sind unumstritten Weltliteratur – und bewirkten deshalb mitunter, dass die italienischen Schriftsteller der Folgezeit nicht jene Beachtung erfuhren, die sie eigentlich verdient gehabt hätten. Etwa Ariost, Aretino, Tasso und Machiavelli im 16., Goldoni und Alfieri im 18. oder Manzoni, Leopardi und Verga im 19. Jahrhundert. Mit der Moderne, mit dem 20. Jahrhundert ändert sich dies – im Grunde bis in unsere Gegenwart, wie die immensen Erfolge zum Beispiel des 2016 verstorbenen Umberto Eco oder auch der Jahrhundertroman „La Storia“ von Elsa Morante (die allerdings schon 1985 starb) beweisen.

Die italienische Literatur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist wieder unumstrittene Weltliteratur. Man könnte vielleicht mit Italo Svevo beginnen, dessen Hauptwerk „Zeno Cosini“ (italienisch: „La coscienza di Zeno“) sowohl mit „Zenos Bewusstsein“, als auch mit „Zenos Gewissen“ übersetzt werden kann. Erschienen ist der Roman 1923, und man merkt ihm an, dass Svevo mit James Joyce befreundet war. Zusammen mit dessen Roman „Ulysses“ und Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ bildet „Zeno Cosini“ ein Triumvirat der modernen Literatur. Wer wissen will, wie es in der Psyche des Menschen aussieht, nachdem Sigmund Freud das Unbewusste entdeckt hat, der kann dies in diesen Romanen nachlesen.

Der Neorealismus in der italienischen Literatur

Es folgten andere, jüngere Autoren, die zum Teil unter dem Oberbegriff Neorealismus oder Neoverismus zusammengefasst wurden, aber so wirklich in keine Schublade passten. Diese Kunstrichtung feierte ihren größten Erfolge ohnehin im Kino mit so weltberühmten Regisseuren wie Roberto Rossellini, Luigi Zampa, Luchino Visconti und Federico Fellini. In der Literatur muss man Autoren wie Alberto Moravia (1907-1990), Elio Vittorini (1908-1966) oder Vasco Pratolini (1913-1991) aufzählen, auch Italo Calvino (1923-1985), bei dem sich der Neorealismus allerdings in einen poetischen, traumhaften Realismus verwandelt.

Ein Name jedoch fehlt noch: Cesare Pavese. 1908 in Santo Stefano Belbo in den Hügeln des Piemonts, die für ihn zeitlebens mythische Orte blieben, geboren, am 27. August 1950 starb er durch Selbstmord. Er nahm in einem Hotelzimmer eine Überdosis Schlaftabletten. Es ist, so bitter das klingt, die logische Konsequenz aus einem einsamen, verzweifelten Leben, das zielgerichtet auf dieses Ende zuläuft und dennoch poetische Werke hervorbrachte, die man mit ganzer Überzeugung zur modernen Weltliteratur zählen darf. Man kann im Leben scheitern, am Leben leiden – und ist vielleicht sogar gerade deshalb ein großer Autor.

Das alles ist nachzulesen in einem der erschütterndsten und zugleich faszinierendsten literarischen Dokumente des 20. Jahrhunderts, in Cesare Paveses Tagebuch. Im italienischen Original trägt es den Titel „Il mestiere di vivere“, übersetzt also „Das Handwerk des Lebens“. Lange Zeit war „Das Handwerk des Lebens“ vergriffen. Jetzt hat Maja Pflug ihre Übersetzung aus dem Jahr 1988 überarbeitet und ergänzt um Passagen, die bisher unveröffentlicht geblieben waren, weil Paveses Nachlassverwalter ihn und auch im Tagebuch genannte Personen schützen wollten. Erschienen ist diese Neuausgabe im Züricher Rotpunktverlag, und es ist, obgleich das Original ja bereits im Jahr 1952 erschienen ist, das Buch zum Italienschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr.

Es ist tatsächlich ein mühsamer Prozess, diese fast 500 Seiten zu lesen, ein schmerzhafter zudem auch. So, wie Pavese sich nicht schont, so schont er auch uns als Leser nicht in diesen Aufzeichnungen, die im Jahr 1935 beginnen. Mussolinis Faschisten haben ihn nach Kalabrien verbannt. Pavese war zwar Mitglied der faschistischen Partei – aus opportunistischen Gründen. Aber er lehnte den Faschismus ab, unterstützte den Widerstand und trat nach dem Krieg auch in die kommunistische Partei Italiens ein.

Zwischen Pornografie, Philosophie und Poetik

Am 18. August 1950 lautet der letzte Eintrag: „Nicht Worte. Eine Geste. Ich werde nicht mehr schreiben.“ Zuvor hatte er Bilanz seines Lebens und Schaffens gezogen. „In meinem Handwerk also bin ich König.“ Doch sein Leben ist eine „cadenza del soffrire“, eine „Kadenz des Leidens“, an deren Ende geradezu zwangsläufig der Freitod steht. In der Nacht von 26. auf 27. August 1950 nimmt er sich in der Albergo Roma in Turin das Leben.

In den 15 Jahren, in denen Pavese Tagebuch führt, schreibt er alles nieder, was ihn beschäftigt. Er lässt nichts Intimes aus, nicht seine Angst vor Impotenz, nicht seine Panik, beim Sex zu früh zu kommen. Das Tagebuch ist bisweilen obszön, ist pornografisch und erschreckend frauenfeindlich: „Wenn eine Frau nach Sperma riecht und es ist nicht meines, gefällt sie mir nicht“, schreibt er am 26. November 1946. Pavese kompensiert seine Bindungsunfähigkeit mit Frauenhass und ist doch immer vor allem eines: ein furchtbar einsamer Mann. Im November 1938 heißt es: „Ich verbrachte den Abend vor dem Spiegel, um mir Gesellschaft zu leisten ...“

Zugleich aber ist dieses Tagebuch eines der wichtigsten literaturtheoretischen Dokumente des 20. Jahrhunderts. Pavese beschäftigt sich mit philosophischen Fragen ebenso wie mit theologischen, vor allem aber ist er auf der Suche nach einer Poetik der modernen Literatur. Und er findet sie im Mythos, der sich in der Erinnerung offenbart. Immer wieder kehrt er in die Hügel des Piemonts zurück – so, wie Anguilla, der Erzähler in Paveses wichtigstem Werk „Der Mond und die Feuer“ (im Original: „La luna e i falò“), im Herbst 1949 in nur zwei Monaten geschrieben und in seinem Todesjahr 1950 erschienen.

Paveses letzter Roman „Der Mond und die Feuer“

Der Protagonist kehrt in die Hügel des Belbo im Piemont zurück: in die Welt seiner Kindheit, in eine mythische Landschaft; er, das Findelkind, sucht heimgekehrt aus Amerika nach den eigenen Wurzeln. Die Zeit scheint still zu stehen in diesem Tal. Die bäuerliche Welt, die am Existenzminimum lebenden Menschen sind Gefangene eines Kerkers – eingesperrt in einen Kreislauf der Jahreszeiten, aus dem es kein Entrinnen gibt. Dem Menschen bleibt nur zu akzeptieren, dass ein Aufbäumen gegen das Räderwerk des Lebens sinnlos ist. „Ripeness is all“ („Reife ist alles“) hat Pavese seinem Roman als Motto vorangestellt. Ein Ausweg: Vielleicht die Flucht nach Amerika, wie sie der Erzähler gewagt hat. Oder der Weg des Autors. Mit dem eigenen Tod stehen alle Türen offen.

Lesezeichen

Cesare Pavese: „Das Handwerk des Lebens – Tagebuch 1935 - 1950“, aus dem Italienischen von Maya Pflug. 480 Seiten, 32 Euro, Rotpunktverlag, Zürich.

Cesare Pavese: „Der Mond und die Feuer“, Roman, aus dem Italienischen von Maya Pflug, 216 Seiten, 26 Euro, Rotpunktverlag, Zürich.

Cesare Pavese (1908-1950).
Cesare Pavese (1908-1950).
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