Literatur Die dunkle Seite der Familie: Laura Lichtblaus Roman „Sund“

Ihre Geschichte, eine Autofiktion: Laura Lichtblau
Ihre Geschichte, eine Autofiktion: Laura Lichtblau

Ein schmaler Band voller Überraschungen und Herausforderungen. In Laura Lichtblaus 135-seitigem Roman „Sund“ taucht die namenlos bleibende Ich-Erzählerin bei einem Urlaub an der dänischen Küste nicht nur tief in die fremde Landschaft, sondern auch in die dunkle Geschichte ihrer eigenen Familie ein. Ihrer Geliebten, auf die sie wartet, schildert sie ihre Impressionen von dem Sund, der Meeresenge zwischen Dänemark und Schweden. Es sind Gedankensplitter, knappste Eindrücke von der Umgebung und ihrer eigenen Befindlichkeit.

Als die Protagonistin mit einer anderen, ebenfalls namenlosen, als „die Neue“ bezeichneten Touristin die Insel Lykke bereist, erlebt sie die Bewohner so verschlossen, als hüteten sie ein Geheimnis. Und tatsächlich erfährt sie bei ihren Recherchen, dass hier einst Zwangssterilisationen verübt wurden. Doch der Sund verschlucke jede Geschichte und alle Beweise, resümiert die Erzählerin. Hier verschränkt sich diese düstere Vergangenheit mit der ihrer eigenen Familie.

Denn ins Zentrum der Reflexionen rückt unerwartet die Auseinandersetzung mit ihrem Urgroßvater, dem Orthopäden Dr. Max Lange, dessen Biografie eine Verwandte verteilt hatte. Dieser gehörte ab 1944 dem Beirat von Karl Brandt an, der Hitlers Begleitarzt war. Sie entdeckt einen Text ihres Urgroßvaters, ein Plädoyer für Zwangssterilisationen. Zusammen mit Ernst Rüde arbeitete er an der sogenannten „Zwillingsstudie“. Vor diesem politischen Hintergrund fragt sie sich, was ihr als queerer Frau damals zugestoßen und ob sie womöglich sterilisiert worden wäre.

Nach dem Krieg wurde der Urgroßvater übrigens nur als Mitläufer eingestuft und erhielt in Bayern zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Ehrentitel „Vater der Kriegsversehrten“. Das Eintauchen der Protagonistin in diese brisante Familiengeschichte ist anders als zunächst bei der Lektüre erwartet, keine Fiktion, sondern Fakt. Denn die Ich-Erzählerin, die im Verlauf der Lektüre als Alter Ego der Autorin erkennbar wird, hat durch eigene intensive Recherchen in Archiven und Wikipedia Einblick in diese von der Familie nach dem Krieg verschwiegene Vergangenheit erarbeitet.

Bei der Lektüre mutet es zwar nicht überraschend, aber dennoch etwas befremdend an, dass sie die Figuren ihres Romans feminisiert und von Passagierinnen, Heldinnen, Wegbegleiterinnen und so weiter spricht. Die 1985 in München geborene, in Berlin lebende Autorin und Übersetzerin kreiert nach ihrem Debütroman „Schwarzpulver“ mit „Sund“ eine höchst lesenswerte Mischung aus (Meeres-)Idylle und Katastrophe, Wahrheit und Fiktion .

Lesezeichen

Laura Lichtblau: „Sund“. Roman ; C.H. Beck, München; 135 Seiten, 22 Euro.

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