Kultur Die Magie des Kinos

Im Rennen um den Publikumspreis in Locarno: die deutsch-italienische Produktion „Drei Zinnen“ mit Alexander Fehling als Aaron, d
Im Rennen um den Publikumspreis in Locarno: die deutsch-italienische Produktion »Drei Zinnen« mit Alexander Fehling als Aaron, der bei einem Urlaub in den Dolomiten um die Zuneigung des Sohnes (gespielt vom neunjährigen Münchner Arian Montgomery) seiner Lebensgefährtin kämpft.

In der Regel interessiert das Wetter bei einem Filmfestival nicht. In Locarno, wo heute die 70. Ausgabe des Internationalen Filmfestivals startet, ist das anders. Denn hier, im malerischen Ort am Schweizer Ufer des Lago Maggiore, sind die abendlichen Freiluftaufführungen für mehr als 8000 Zuschauer das A und O.

Gegründet wurde das Festival 1946 von Regie-Stars wie Charlie Chaplin und Sergej Eisenstein für einen kleinen illustren Kreis im Garten des Grand Hotels auf einer Anhöhe über dem See. Das Hotel ist seit gut einem Dutzend Jahren geschlossen, verriegelt, es verrottet. Das Festival aber strahlt voller Elan. Zum Jubiläum wurden neue Spielstätten geschaffen und alte renoviert. Auch wurden neue Programm-Sektionen, etwa für Kinder und für die digitalen Künste, eingerichtet. Bis 12. August werden ab heute mehr als 300 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme gezeigt, die meisten als Uraufführung. Dutzende Preise in vielerlei Reihen und Sektionen winken. Den wichtigsten bekommt am Samstag kommender Woche einer der 18 Beiträge im Hauptwettbewerb, dem „Concorso Internationale“: den Goldene Leopard. Hier hat in diesem Jahr auch das deutsche Kino eine Chance. Regisseur Jan Speckenbach geht mit dem formal ungewöhnlichen Familiendrama „Freiheit“ ins Rennen. In drei Episoden, aus drei unterschiedlichen Perspektiven, erzählt der Film die Geschichte einer Ehefrau und Mutter, die ihr Heim und ihre Lieben scheinbar überraschend verlässt. Hauptdarstellerin Johanna Wokalek fesselt mit einer facettenreichen Charakterstudie in der deutsch-tschechischen Produktion. Autor und Regisseur Jan Speckenbach stellt mit „Freiheit“ nach seinem viel beachteten Debüt „Die Vermissten“ (2012) seinen zweiten abendfüllenden Kino-Spielfilm vor. Damit gehört der Mittvierziger zu den typischen Locarno-Akteuren. Denn seit Ende der 1950er, Anfang der 60er Jahre konzentriert sich das Festival insbesondere auf die Förderung von Filmemachern, die im internationalen Maßstab am Anfang ihrer Karrieren stehen. Heute weltbekannte Regisseure wie etwa Woody Allen, Krzysztof Zanussi, Andrei Tarkowski oder Atom Egoyan haben einst in Locarno erstmals über die Grenzen ihrer Heimatländer hinaus auf sich aufmerksam gemacht. Deutschland konnte sich in den vergangenen Jahren immer wieder über Preise in Locarno freuen. So hat im Vorjahr die rumänisch-deutsche Koproduktion „Vernarbte Herzen“ des Regisseurs Radu Jude über das Leben des Dichters Max Blecher den Spezialpreis der Jury bekommen, 2015 „Der Staat gegen Fritz Bauer“ den begehrten Publikumspreis. Der wird durch Abstimmung der Zuschauer an Filme vergeben, die außerhalb aller Wettbewerbe abends auf der Piazza Grande laufen. Hier sind in diesem Jahr für Deutschland Felix Randaus „Iceman“ („Der Mann aus dem Eis“) und Jan Zabeils „Drei Zinnen“ dabei. In „Iceman“ verkörpert Jürgen Vogel, in einer frei erfundenen Geschichte, den als Ötzi bekannt gewordenen Steinzeitmenschen, dessen mumifizierte Leiche 1991 nach mehr als 5000 Jahren im Eis der Ötztaler Alpen in Südtirol entdeckt worden ist. In „Drei Zinnen“ spielt Alexander Fehling einen jungen Mann, der gleichsam aus der eigenen Haut schlüpfen muss, um bei einem Dolomiten-Urlaub die Zuneigung des Sohnes seiner neuen Lebensgefährtin zu gewinnen. Wie „Freiheit“ im Hauptwettbewerb, haben sich allerdings auch die zwei deutschen Beiträge des Piazza-Programms in einer starken Konkurrenz zu behaupten. Noch stärker als in den Vorjahren soll zum Jubiläum die Präsenz von Prominenz sein. Stars wie Fanny Ardant, Mathieu Amalric, Vanessa Paradis, Charlize Theron, Willem Dafoe, Glenn Close, Noomi Rapace, Adrien Brody und Nastassja Kinski sind angekündigt, stellen entweder neue Filme vor, oder werden für besondere Leistungen geehrt. Ein Excellence Award geht etwa am Samstag an den französischen Schauspieler und Regisseur Mathieu Kassovitz. Carlo Chatrian, der künstlerische Leiter, setzt auf eine gute Mischung von Kunst und Kommerz. Dabei, so betont er gern, sind für ihn die Künstler die entscheidenden Partner. Wenn die Fanfare heute Abend um 21.30 Uhr die Jubiläumsausgabe des Festivals eröffnet, dann startet der Filmreigen nach 70 Jahren unter einem neuen Namen: Statt „Festival del Film Locarno“ heißt es jetzt kurz und knapp „Locarno Festival“. Ein deutliches Signal dafür, dass am Lago Maggiore neben dem traditionellen Kino auch das moderne, etwa digitale Formate oder Internet-Offerten, in Zukunft eine größere Rolle spielen sollen. Das Gros der Zuschauer, darunter Tausende junger Leute, die auf Zeltplätzen campieren oder in den noch halbwegs preiswerten Pensionen rund um den Urlaubsort unterkommen, trifft sich aber wohl weiterhin besonders gern all abendlich auf der Piazza Grande – selbst wenn die Gebete an die Madonna del Sasso, die Schutzpatronin des Ortes, nicht helfen, und es womöglich stürmt, gewittert und regnet. Den Projektionen auf der größten Kinoleinwand der Welt folgen Tausend auch gern unter Capes und Schirmen. Denn tatsächlich entfaltet sich die Magie des Kinos unterm Sternenglanz von Locarno auf wirklich einmalige Weise.

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