Kultur Die Schatten der NS-Zeit

Bunter Außenseiter in einer uniformen Welt: Christoph Bornmüller als Hans Schnier.
Bunter Außenseiter in einer uniformen Welt: Christoph Bornmüller als Hans Schnier.

Sex vor der Ehe, zwischen einem katholischen Mädchen und einem protestantischen Jungen – vor wenigen Jahrzehnten war das ein Riesenaufreger. Deshalb hat Heinrich Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“ 1963 für viel Wirbel gesorgt. Der russische Regisseur Maxim Didenko beweist mit seiner bildgewaltigen Inszenierung am Mannheimer Nationaltheater, dass man ihn heute noch lesen sollte.

Heinrich Böll wäre jetzt 101 Jahre alt, er ist seit 33 Jahren tot. Der Mann, der den Literaturnobelpreis bekam, politische Debatten auslöste, in der Friedensbewegung aktiv war und in der CDU und der Katholischen Kirche seine Feindbilder sah – dieser Schriftsteller ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Seine Werke, das bekannteste ist „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, werden mitunter noch im Schulunterricht gelesen. Aber eigentlich gelten sie als Dokumente der Vergangenheit, als Zustandsbeschreibungen einer nicht mehr existierenden Bundesrepublik. Die Idee, die „Ansichten eines Clowns“ auf die Bühne des Nationaltheaters zu bringen, kam von außen: aus Russland. Der Regisseur Maxim Didenko schlug den Roman in einer Fassung seines Landmanns Valery Pecheykin vor. Böll ist in Russland schon immer gern gelesen worden. Der zentrale Konflikt in den „Ansichten“ zwischen der Haltung eines Einzelnen und den Moralvorstellungen eines Kollektivs interessiert dort wohl heute noch. Für den nicht unwahrscheinlichen Fall, jemand im Publikum könne womöglich Hans Schnier nicht die gewünschte Grundsympathie entgegenbringen, hat Didenko vorgesorgt. Der Clown, „offizielle Berufsbezeichnung: Komiker“, watschelt und stolpert zu Beginn des Abends in einem quietschgelben, aus Badvorleger-ähnlichem Stoff gearbeiteten Enten-Kostüm vor dem Publikum herum und offenbart erst nach ein paar Minuten sein Gesicht. Alles klar: Hans Schnier ist der knallbunte Außenseiter in einer uniformen Schwarz-Weiß-Welt. Die Menschen, denen er nun begegnen wird, tragen alle das Gleiche, und sie denken auch mehr oder weniger das Gleiche. Dieser Clown namens Hans ist 27 Jahre alt, hat eine Gitarre in der Hand und die Melancholie im Gemüt. Nachdem er auf einer Bühne in Bonn betrunken ausgerutscht ist, ist es mit seiner Karriere fürs Erste vorbei. Und mit Marie ist es auch vorbei. Marie ist seine große, wahre, einzige Liebe, sechs Jahre zuvor hat er sie zum ersten Mal zu Hause besucht. Der Dialog, den sie führen, nachdem sie ihre Unschuld verloren hat, steht wörtlich genau so bei Böll: „Ich fragte sie, warum sie denn jetzt weine, und sie flüsterte: ,Mein Gott, ich bin doch katholisch, das weißt du doch.“ Das Publikum lacht nicht darüber, es schmunzelt leise. So war das eben damals. „Frei nach dem Roman von Heinrich Böll“ steht im Programmheft, aber eigentlich hält sich Didenkos Inszenierung streng an die literarische Vorlage. Eine eigene Geschichte erzählt er vor allem visuell. Mithilfe von Video, Licht und elektronischer Musik entstehen gewaltige Bilder, laute, grelle, auch anstrengende. Wie Tropfen für Tropfen die Bühne rot gefärbt wird wie mit Blut, das man als das der Opfer des Nationalsozialismus deuten kann, wie die Bilder von aufmarschierenden Nazi-Mitläufern den Zuschauern immer wieder eingehämmert werden – das muss man aushalten können. Denn auch darum geht es in den „Ansichten eines Clowns“: um Eltern, die mitgemacht haben in der NS-Zeit, die sich schuldig gemacht haben, die nicht aufgestanden sind gegen Ausgrenzung. Und an der Stelle muss man nicht mehr fragen, ob dieser Text uns heute noch etwas zu sagen hat. Bei Didenko ist die Bühne auch eine Zirkusmanege, in der sich alle mit Lust austoben dürfen. Christoph Bornmüller lässt das Publikum in die verletzte Seele seines Hans Schnier blicken, Sophie Arbeiter verleiht der Marie großen Ernst. Die anderen sieben Schauspieler spielen, tanzen, hüpfen zusammen 15 Rollen. Ständig zieht sich jemand um. Ganz am Ende zieht sich jemand aus und rutscht mit nacktem Unterkörper eine Rutsche hinunter, genau wie eine Puppe mit Schniers Ebenbild, die alle zusammen am Ende in einen Sarg legen. Nach 105 Minuten schauen wir Christoph Bornmüller dabei zu, wie er die Clownsschminke aus seinem Gesicht wischt, und atmen tief durch. Termine —Nächste Vorstellungen am 5. , 6., 24., und 28. April —Karten: Telefon 0621 1680 150 www.nationaltheater-mannheim.de

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