Kultur Durch Zeit und Raum

Nicht Dido, sondern Rokia Traoré, Sprecherin des neuen Prologs zur Purcell-Oper.
Nicht Dido, sondern Rokia Traoré, Sprecherin des neuen Prologs zur Purcell-Oper.

Eine Uraufführung, die man sofort noch einmal hören möchte: „Seven Stones“ von Ondrej Adámek; eine Barockoper, vor allem TV-kompatibel: Henry Purcells „Dido und Aeneas“. Das Festival lyrique von Aix-en-Provence zieht vielfältige Register, um die Vitalität der über 400 Jahre alten Gattung Oper zu beweisen.

Der Mann hat seine Frau umgebracht. Weil er sie nach einer langen Reise in den Armen eines anderen überraschte. Ein Stein traf das Opfer … „Seven Stones“ heißt die Uraufführung, auf die man in Aix-en-Provence fast sieben Jahre warten musste. So lange ist es her, dass der junge tschechische Komponist Ondrej Adámek dem französischen Choreographen (und Regisseur der Uraufführung) Eric Oberdorff und dem isländischen Autor Sjón begegnete – bei einem der vielen Workshops der das Festival seit 20 Jahren begleitenden Akademie, die sich zu einer Art Labor für die Oper der Zukunft entwickelt hat. Man darf sich hier Zeit für den Entstehungsprozess lassen. Dass so viel davon fließen musste, lag allerdings nicht an den beteiligten Künstlern, sondern an einer Finanzierungslücke vor zwei Jahren. So kam es, dass Adámeks erste Oper erst nach einer jüngst viel beachteten weiteren Uraufführung bei der Münchner Biennale für neues Musiktheater - „Alles klappt“, basierend auf Archivmaterial des jüdischen Museums Prag und Familienerinnerungen – auf die Bühne kam. Bei „Seven Stones“ handelt es sich um eine der sogenannten kleinen Formen, wie geschaffen für den intimen Rahmen des Théâtre du Jeu de Paume aus dem 18. Jahrhundert. Der Komponist bietet gleichwohl große Oper, dargeboten von vier Gesangssolisten – Anne Emmanuelle Davy, Shigeko Hata, Nicolas Simeha, Landy Andriamboavonjy – und dem auf Zeitgenössisches spezialisierten Chor accentus/ axe 21. Eine Oper ohne Orchester, aber nicht ohne Instrumente. Die aber, klassisch oder für diese Partitur erst „erfunden“, werden von „schauspielernden Sänger-Tänzern“ gespielt. Adámek hat in die kleine Form höchst virtuos europäische Musiktradition von Bach bis Boulez verpackt, die Grenzen des Kontinents bis nach Japan und Südamerika erweitert und zwischendurch gar den Planeten in Richtung Mond verlassen. Die ideale Vorlage für diese Reise durch Zeit und Raum bietet das Libretto des isländischen Autors Sjón – bekannt als Texter von Björk-Songs, vor allem für Lars von Triers „Dancer in The Dark“. Auf Deutsch ist von ihm 2006 eine Lyrik-Sammlung mit dem Titel „Gesang des Steine-sammlers“ erschienen. Auch der Held seiner Oper ist Steinesammler, der aus der Realität – der vermeintliche Liebhaber der getöteten Frau war sein ältester Sohn – in surrealistisch anmutende Erinnerungswelten flieht. „Seven Stones“ in all seiner Vielschichtigkeit gehört gewiss zu den Neuschöpfungen, des Musiktheaters, die mehr als eine Produktion erleben und deswegen überleben ... so wie die gut 330 Jahre ältere „Dido“von Henry Purcell. Diese wohl 1689 uraufgeführte, nicht vollständig erhaltene Oper ist die zweite Produktion unter freiem Himmel in dieser Festival-Saison, ausersehen zur TV-Übertragung aus dem Théâtre de l’Archevêché, klassisch schön mit wenig verschreckenden Aktualisierungen in Szene gesetzt von Vincent Huguet, einst Assistent und jetzt Sachwalter des verstorbenen Großmeisters Patrice Chéreau, dessen zeitlose Ästhetik der letzten Arbeiten auch hier durchscheint. Wer kann angesichts der Geschichte von Flucht und Vertreibung – der Trojaner nach Karthago – nicht an heutige Flüchtlinge auf dem Mittelmeer denken? Weit eindrucksvoller als die Oper selbst – im Originalklang dargeboten vom Ensemble Pygmalion unter Václac Luks, aber trotz grandioser Bühnenerscheinung bis zum traurigen Ende nach dem richtigen Ton suchenden Kelebogile Pearl Besong in der Titelrolle und einem blassen Aeneas – ist allerdings der neu hinzugefügte Prolog. Der erzählt von Didos Flucht: geschrieben von der französischen Bestseller-Autorin Maylis de Kerangal, eindringlich gesprochen von der aus Mali stammenden Sängerin und Musikerin Rokia Traoré, begleitet vom Spiel der N’Goni, einer westafrikanischen Langhalslaute. Barock trifft Afrika: Auch das ist Aix. TV-Tipp —Henry Purcell: „Dido and Aeneas“, heute um 23.25 Uhr, auf Arte. —„Seven Stones“ und weitere Produktionen sind auf Arte Concert im Internet abrufbar.

Mondstein – aus der Uraufführung „Seven Stones“ von Ondrej Adámek.
Mondstein – aus der Uraufführung »Seven Stones« von Ondrej Adámek.
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