Pfalzgeschichte(n) Ein Landauer schafft in Paris bizarre Bilderwelten

Bedrohlich: Szenarien mit Riesen-Vogelskeletten und Menschen-Miniaturen.
Bedrohlich: Szenarien mit Riesen-Vogelskeletten und Menschen-Miniaturen.

Gekrümmte Menschen, pelzige Viecher, skurrile Endzeitszenarien: Der Schöpfer dieser in Paris entstandenen phantastisch-grotesken Bilderwelten stammt aus Landau in der Pfalz. Charles-Frédéric Soehnée (1789-1878) hat als Firnisfabrikant viel Geld verdient, seine Kunst jedoch blieb verborgen. Und noch immer gibt er Rätsel auf.

„Des gibt’s doch gar net – aus Landau soll der sei? Und der hot so gruselige Bilder gemolt? Otfried Culmann, in Billigheim lebender Maler, Grafiker, Autor und international geschätzter Kurator für Ausstellungen Phantastischer Kunst, erinnert sich noch genau an den Moment, an dem er zum ersten Mal über Arbeiten eines gewissen Charles-Frédéric Soehnée gestolpert ist.

Otfried Culmann, Experte für Phantstische Kunst, begeistert von seinem geistigen Vorfahren.
Otfried Culmann, Experte für Phantstische Kunst, begeistert von seinem geistigen Vorfahren.

Beim Anblick dieses „Gruselkabinetts“ aus überdimensional großen Fledermäusen und Maulwürfen, skurrilen Vogelskeletten mit Pferdeköpfen und Miniaturmenschen auf Stelzenbeinen in düsterer Farbgebung und Weltuntergangsstimmung blieb dem Pfälzer Schöngeist mit Hang zu ästhetisch-märchenhaften Mittelmeerszenen fast die Spucke weg. Und freilich war sofort sein Interesse geweckt.

Handel mit bunten Stoffen

Viel war und ist über diesen Soehnée, der tatsächlich als Karl Friedrich Söhne am 3. November 1789 im sogenannten Böckingschen Haus direkt am Landauer Rathausplatz das Licht der Welt erblickte, nicht zu erfahren. Dabei ist er in eine überaus angesehene und wohlhabende Familie mit einem weit verzweigten Stammbaum bis zurück ins 16. Jahrhundert hineingeboren. Sein Vater Johann Jakob Söhne war ein erfolgreicher Kaufmann mit leitender Funktion bei Pourtalès, einem großen Handelshaus in Neuchâtel/Schweiz. 1797 gründete er in Paris die Firma Soehnée l’ainé & Cie., die in Fabriken in Mühlhausen, Colmar und Munster im Elsass farbige und bedruckte Stoffe herstellte.

Bürgerlich-idyllischer Geburtort: das Böckingsche Haus in Landau.
Bürgerlich-idyllischer Geburtort: das Böckingsche Haus in Landau.

Die Wirren der Französischen Revolution haben die Familie wohl bald nach Karl Friedrichs Geburt über Umwege nach Paris geführt, wo sich der spätere Künstler fortan Charles-Frédéric Soehnée nannte.

Die Erfindung eines Lacks

Weitere Recherchen Culmanns – nun mit Unterstützung von Landaus ehemaligem Archivar Michael Martin – haben ergeben, dass sich der junge Mann 1809 „für lächerliche 100 Francs“ vom Wehr- und Kriegsdienst freikaufen und seinen künstlerischen Neigungen hingeben konnte. Dass er möglicherweise unter die Fittiche des damals hochrenommierten Malers Jacques-Louis David genommen wurde, ist zwar nicht belegt, wäre aber ein erster Hinweis auf seine überdurchschnittliche Begabung. Ab 1810 studierte er in Paris beim neoklassizistischen Maler Anne Louis Girodet de Roussy-Trioson die Malerei und zeigte schon damals großes Interesse an technischen Raffinessen. Seine Promotion 1822 hatte „Die Maltechnik der Alten Meister und der Zusammensetzung ihrer Malmittel“ zum Thema.

Später wird Soehnée selbst eine Firnis entwickeln und zu ihrer Herstellung eine eigene Firma gründen. Die „Vernis Soehnée“ der Firma Maison Soehnée Frères fand trotz ihres hohen Preises reißenden Absatz, der anhand von Rechnungen bis 1939 nachgewiesen werden konnte. Der Liter dieses Luxusprodukts kostete zwölf bis 16 Francs – damals das Vierfache eines durchschnittlichen Mittagessens. Und weil dieser besondere Lack, der auf Weltausstellungen mehrfach mit Goldmedaillen ausgezeichnet und sogar von Delacroix gerühmt wurde, nicht nur für Ölgemälde, sondern auch zum Schutz von Gegenständen aus Holz, Elfenbein und Glas, ja sogar zum Einbinden von Büchern taugte, war Soehnée nicht allein auf Einnahmen durch die malenden Zunft angewiesen.

Zwei Jahre Hochproduktion

Wie sonderbar, dass der zum Geschäftsmann mutierte Künstler von seinem Spitzenprodukt selbst wohl keinerlei Gebrauch gemacht hat: Es scheint überhaupt keine Ölgemälde von ihm zu geben. Oder hat man diese Werke einfach noch nicht gefunden?

All die kleinen Skizzen von gekrümmten Menschen und verknöcherten Köpfen, pelzigen Viechern und zerlumpten Missgestalten, die prozessionsartig ganze Blätter bevölkern, scheinen doch geradewegs als Vorstufe für große Ölgemälde entworfen worden zu sein, sinniert Otfried Culmann, der dem „Pfälzischen Phantasten in Paris“ seit 15 Jahren nachspürt, ihn auch in seiner deutschen Heimat bekannt machte, sich auf vieles aber bis heute keinen Reim machen kann.

Tatsache ist, dass das komplette künstlerische Werk, das bisher zum Vorschein kam, nur binnen zweier Jahre entstand. Geradezu fieberhaft muss der junge Girodet-Schüler 1818 und 1819 Hunderte Zeichnungen, Lavierungen und Aquarelle gefertigt haben, die die Kunstwelt seit einer Ausstellung in der Pariser Galerie Jean Marie Le Fell im Jahr 2006 in ungläubiges Staunen versetzt und unter dem Titel „Un Voyage en Enfer“ (Eine Reise zur Hölle) in einem bildgewaltigen Katalog verewigt wurden. In diesem Buch bekommt man auch den Maler selbst zu Gesicht: in einer Kreidezeichnung um 1810 (eventuell ein Selbstporträt) blickt er mit Zylinder und Halstuch ruhig und unaufgeregt knapp am Betrachter vorbei. Eine zweite undatierte und unautorisierte Kreidezeichnung zeigt ihn mit schwungvollen Linien in markantem Profil.

Das Jahr ohne Sommer

Am meisten Staat macht Soehnée auf einem Porträt von 1812, das Pierre-Louis Delaval in Öl auf Leinwand von seinem Studienfreund schuf. Es präsentiert den Maler als ernsten Mann, mit sanften melancholischen Augen, das lange Gesicht und die Hand aus dunklem Umfeld kontrastreich ins Licht gesetzt. Und dieser so ruhig anmutende Mensch inszeniert solch haarsträubende Apokalypsen? Phantasiert sich in Alpträume, als wäre er Protagonist von Goyas berühmten Caprichos, besonders dem Blatt „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“? Wurde Soehnée von Goya inspiriert?

Charles-François Soehnée, um 1812 poträtiert von seinem Maler-Studienfreund Pierre-Louis Delaval.
Charles-François Soehnée, um 1812 poträtiert von seinem Maler-Studienfreund Pierre-Louis Delaval.

Kulturjournalist Patrick Mauriès schafft in seiner Betrachtung im Katalog auch Querverweise zu Jacques Callot und Tiepolo, zu Charles Meryon und Hieronymus Bosch. Sichtbar, so sinniert wiederum Culmann, sei ebenfalls der Einfluss von Alexandre-Jean Noël mit seinen dramatischen Landschaftsbildern. Und dennoch sei Soehnées Stil einzigartig und unverkennbar. Auch die damalige Ägyptenbegeisterung, – entfacht durch Napoleons Feldzug und die Entzifferung der Hieroglyphenschrift wenige Jahre zuvor – spielt in die Bildmotive mit hinein.

Warum aber geht bei Soehnée alles vor die Hunde? Warum angeln siechende Menschen in eigenartigen Gewässern nichts als Ratten? Wieso kreisen überall Fledermäuse? Warum hängt totes Federvieh kopfüber unter einsturzgefährdeten Brücken, über die wiederum völlig verstörte Menschenströme pilgern? Hat dieses Endzeitszenario vielleicht mit einer realen Naturkatastrophe zu tun? 1815 führte der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora auch in Europa zum „Sommer ohne Sonne“, der Dürre, Überschwemmungen, Hungersnot, Ratten- und Schneckenplagen über die halbe Welt brachte und den Menschen Furcht einjagte. Titel wie „Die Wiege des Todes“, „Der Stille geweihter Ort“ oder „Die Winde, die sich um die Pest und den Tod gruppieren“ könnten darauf hindeuten.

Vielleicht aber hatte der gebürtige Pfälzer, dem es privat ja gut zu gehen schien, einfach nur Spaß an der Groteske, dem Aberwitzigen, Gruseligen, Irritierenden? Womöglich war ihm die paradoxe Umkehrung der Verhältnisse nur ein Spiel.

Denn im Gegensatz zu den schauerlichen Gestalten, die die kargen, wüstenähnlichen Bildwelten bevölkern, ist der malerische Duktus durchaus reich, üppig und feinsinnig. Die schwer verdaulichen Bildszenen werden durch die virtuose Leichtigkeit des Pinselstrichs, die duftige Zartheit und Helligkeit der Farben, die oft mit schwarzen Lavierungen übermalt werden, geradezu konterkariert. Auffällig ist auch, dass Größen- und Kräfteverhältnisse auf den Kopf gestellt und Proportionen ad absurdum geführt werden.

Gestörte Maßstäbe

Exotisch anmutende Menschen – klein wie Liliputaner – reiten auf fetten Maulwürfen oder ellenlangen Nacktschnecken, Dinosaurierskelette ziehen Planwägen voller Flüchtender, fette Flusskrebse schultern schmächtige Männer, eine Fledermaus entfaltet ihre Flügel zum mächtigen Segel eines überfüllten Bootes, das zu einer unheimlichen Fahrt aufbricht. Auf kahlen Bäumen lauern Geier, aus kargen Landschaften ragen Galgen, dürre Fackelträger beleuchten die Apokalypse, Feuer speiende zottelige Drachenwesen erhellen den Horizont. Eine verkehrte Welt, in der das Winzige zum Maßstab des Gigantischen wird und die Unterwelt die Überhand gewinnt. „Die Zerbrechlichkeit eines Vogelskeletts nimmt die erschreckende Kraft einer monströsen Kriegsmaschine an“; verweist auch Mauriès auf die „systematischen Störung aller Maßstäbe“. Mindestens genauso verwirrend aber ist die Tatsache, dass die Menschen in diesen Szenarien gar nicht zu merken scheinen, was um sie herum geschieht. Sie sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie das drohende oder längst hereingebrochene Unheil nicht wahrzunehmen scheinen. Und somit noch ein Extra-Rätsel aufgeben.

Von einem persönlichen Unheil in Charles Frédéric Soehnées Leben ist nichts bekannt. Der Handel mit seiner Luxusfirnis, die sogar von Delacroix gelobt wurde und deren Rezeptur genauso geheimnisumwoben wie seine Bildwelten war, hat ihm Wohlstand gebracht. Er lebte in Le Pré-Saint-Gervais bei Paris, besaß eine Sammlung von Zeichnungen des Barockmalers Joseph Parrocel (1646–1704), die er dem Louvre als Stiftung vermachte und wurde fast 90 Jahre alt. Sein Todestag ist der 1. Mai 1878.

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