Literatur Eine Entdeckung: Der ukrainische Autor Hryhir Tjutjunnyk

„Geh zu ihr, Sonja, sag ihr, ich hätte, wie es der blinde Banduraspieler auf dem Sinkiwsker Jahrmarkt gesungen hat, ich hätte dr
»Geh zu ihr, Sonja, sag ihr, ich hätte, wie es der blinde Banduraspieler auf dem Sinkiwsker Jahrmarkt gesungen hat, ich hätte drei Kuckucke und eine Verbeugung geschickt, aber ich wüsste nicht, ob sie das ausweglose Sibirien überqueren würden oder nicht womöglich herabstürzen im Frost.«

Der ukrainische Autor Hryhir Tjutjunnyk ist eine echte Entdeckung. Sein Leben war voller Traumata. Mit 48 beging er Selbstmord. Präsident Wolodymyr Selenskyj schätzt ihn als eine der „bedeutendsten Persönlichkeiten der ukrainischen Literatur“. Jetzt erscheinen seine Erzählungen unter dem Titel „Drei Kuckucke und eine Verbeugung“ auf Deutsch.

In den meisten von Hryhir Tjutjunnyks Erzählungen über das Dorfleben in der Zentralukraine gibt es einen stillen Neben-, wenn nicht gar Hauptdarsteller: den Fluss Dnipro, der in Wahrheit ein Strom von so gewaltigen Dimensionen ist, dass diese das westeuropäische Vorstellungsvermögen übersteigen. An diesen Lebensstrom der Ukraine, der auch einer der größten Städte des Landes seinen Namen gab, zieht es Tjutjunnyks Protagonisten fortwährend – sei es, um zu fischen oder um den Mond zu betrachten: „Ich nehme den steilen Weg vom verkrauteten Anlegeplatz am Dnipro zum Himmelsrand, so nah scheint er schon, wie in einem gigantischen Tor steht er zwischen den Flanken der Steilufer, heilig und festlich vor Einbruch der Nacht – über sich die dünne, violette Sichel des jungen Monds mit einem einzigen Stern, auch er violett.“

Dieses Zitat stammt aus „Himmelsrand“, einer von 13 Erzählungen des Bandes „Drei Kuckucke und eine Verbeugung“. In mehreren Abschnitten wie „Den Leuten zum Wohl“ berichtet der junge Ich-Erzähler von seinen Wanderungen entlang des Dnipro und wem er dabei begegnet. Etwa der alten Marfa, die dreimal verheiratet war. Ihr erster Mann pflanzte einen Birnbaum und legte gleich daneben einen Teich an. Marfa ist längst dreifache Witwe, auch durch den Zweiten Weltkrieg, der ihr den ersten Mann nahm. Aber nun fallen die reifen gelben Birnen des ausgewachsenen Baums ins kühle Wasser des Teichs. Sie erfrischen alle Hungrigen, die vorbeikommen.

Wie Geschwister seien der Birnbaum und der Teich, befindet der Ich-Erzähler, dem die freigiebige Marfa die Taschen mit Früchten vollstopft. Eine Grundsympathie für die Natur und die Menschen und Tiere, die friedvoll von und mit ihr leben, prägt Hryhir Tjutjunnyks Texte. 1931 geboren, durchlitt er als Kind den Holodomor, das systematische Aushungern der ukrainischen Landbevölkerung durch den sowjetischen Machthaber Stalin und dessen Handlanger.

Tjutjunnyks Vater wurde verhaftet und starb in einem Arbeitslager, ein Trauma, das in den Texten des Sohnes fortwirkt. Seine Mutter heiratete ein zweites Mal und gab den kleinen Hryhir an Verwandte im Donbas weg, wo er auch nicht bleiben konnte und zu Fuß zurücklief. Nach der Armeezeit und Jahren als Schlosser im Waggonwerk in Charkiw konnte er sich seinen Traum erfüllen, russische Philologie zu studieren. Doch nach seinem Debüt 1961 mit der Kurzgeschichte „Im Zwielicht“ überzeugte ihn älterer Halbbruder Hryhorij, selbst Schriftsteller, in der ukrainischen Muttersprache zu schreiben. Darin entwickelte Hryhir Tjutjunnyk eine Meisterschaft, die ihn nicht nur für Präsident Wolodymyr Selenskyj zu einer der „bedeutendsten Persönlichkeiten der ukrainischen Literatur“ macht, wie der Klappentext vermerkt.

Ungewöhnliche Farbeindrücke bestimmen Tjutjunnyks Prosa der stillen Natursensationen: „Über den vom Aprilhochwasser überschwemmten Wiesen kühlte der apfelsinenfarbene Abend aus, goss den fernen Brand der Wolken ins seichte Wasser am Ufer.“

Der reizvolle Titel „Drei Kuckucke und eine Verbeugung“ des in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb gestalteten Buchs geht auf eine Redensart zurück, wie die Übersetzerin Beatrix Kersten im Glossar erläutert. Demnach schickt man einer Person, deren Liebe man nicht erwidert, die drei sprichwörtlichen Kuckucke, um ihr zu sagen: „Vergiss, las los, gib mich auf und frei.“ Als unsteter Vogel, der sich kein Nest baut, steht der Kuckuck in der Volksmythologie als Symbol für die unerfüllte Liebe.

In der Titelerzählung enthüllt sich durch die Briefe eines nach Sibirien verbannten Familienvaters, dass dieser im Dorf eine heimliche Verehrerin hat. Seiner Frau Sonja gesteht der Deportierte, dass er auch der anderen Frau einmal im Monat einen Brief schreibt: „Geh zu ihr, Sonja, sag ihr, ich hätte, wie es der blinde Banduraspieler auf dem Sinkiwsker Jahrmarkt gesungen hat, ich hätte drei Kuckucke und eine Verbeugung geschickt, aber ich wüsste nicht, ob sie das ausweglose Sibirien überqueren würden oder nicht womöglich herabstürzen im Frost.“

Der Ausdruck „das ausweglose Sibirien“ war Tjutjunnyk von den sowjetischen Behörden verboten worden. Obwohl seine impressionistische Prosa nie die Verhältnisse direkt anklagt, war sie den Mächtigen ein Dorn im Auge. Es hagelte Verrisse und er sah sich Schikanen ausgesetzt. Besonders litt er unter dem Schweigen der Schriftstellerkollegen. „Quält einen anderen zu Tode“, schrieb der zweifache Vater im März 1980 in seinem Abschiedsbrief, bevor er sich mit 48 Jahren das Leben nahm. Nur als Kinderbuchautor wurde er kurz vor seinem Tod gewürdigt. Es ist das große Verdienst der Übersetzerin und Herausgeberin Beatrix Kersten, mit diesem Band Hryhir Tjutjunnyks berührende literarische Seele nun auch auf Deutsch zum Klingen zu bringen.

Lesezeichen

Hryhir Tjutjunnyk: „Drei Kuckucke und eine Verbeugung“; Erzählungen; ausgewählt und aus dem Ukrainischen übersetzt von Beatrix Kersten; Weissbooks, Berlin; 223 Seiten, 24 Euro.

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