Kultur Feier der Vielfalt

Passend zum Muttertag: Michael Schultes Auftritt.
Passend zum Muttertag: Michael Schultes Auftritt.

Vierter statt Letzter: Michael Schulte aus Buxtehude hat beim Eurovision Song Contest (ESC) in Portugal alle überrascht. Ob in Deutschland damit das Grand-Prix-Fieber künftig wieder steigt? Gewonnen hat die Favoritin Netta aus Israel mit „Toy“, gefolgt von Eleni Foureira aus Zypern („Fuego“) und dem Österreicher Cesár Sampson.

„Twelve points go to… Germany!“ Gefühlte Ewigkeiten haben deutsche ESC-Fans keine Zwölf-Punkte-Ernte mehr erlebt (zuletzt 2010 bei Lenas Sieg). Michael Schulte wirkte denn auch überaus verblüfft, als die Jury der Niederlande die erste Höchstnote für ihn vergab, gefolgt von Dänemark, Norwegen und der Schweiz. Vierter war der Mann aus Buxtehude bei der Jury, Sechster beim Publikum. Zwölf Punkte kamen auch hier aus Dänemark und den Niederlanden. Gewichtet wird 50:50. Aber Schulte konnte den vierten Platz halten, den ihm in Deutschland, wo sein Song kaum im Radio lief, niemand zugetraut hatte. Europa aber schätzt seine ernsthafte Singer-Songwriter-Nummer mit Anleihen bei Ed Sheeran und emotionaler Note: „You Let Me Walk Alone“ handelt von seinem früh verstorbenen Vater. Der 28-Jährige mit dem rotem Wuschelkopf bekam aus 41 der 43 beteiligten Ländern Stimmen (null Punkte gab es aus der Ukraine und Weißrussland). Zehn Jurypunkte kamen aus Australien, San Marino, Österreich, Italien, Polen, Serbien. Das klingt nach schönster europäischer Nachbarschaftsliebe. „You Let Me Walk Alone“ trifft offenbar den Geschmack jener, die genug von typischem ESC-Dancepop haben. Der Abzählreim-Refrain und die hübschen Comic-Illustrationen – seit Måns Zelmerlöws Sieg 2015 praktisch ein Muss für männliche Solokünstler – zum sonst ohne Firlefanz auskommenden Auftritt im schwarzen Sweatshirt haben überzeugt. Auch hat Schulte eine starke, warme Stimme und sang tadellos. Das gelang unter den vor ihm Platzierten nur dem Österreicher Cesár Sampson, der mit seinem Neo-Gospel-Pop gar Juryfavorit war. Am Ende wurde der Pilateslehrer aus Linz Dritter: Sampson wie Schulte haben mit ihrem punktgenauen Kuschelpop wohl exakt die Hörer begeistert, denen die im Vorfeld laut als Favoritinnen beworbenen Sängerinnen aus Israel und Zypern doch zu schief gesungen und zu dick aufgetragen haben. Netta und Eleni Foureira stehen für zwei durchaus gegensätzliche Elemente des ESC: Die Nummer „Fuego“ aus Zypern, vorgetragen von der Griechin Foureira, ist ein typischer Partysong, befeuert von Latinorhythmen à la Enrique Iglesias & Co. Vor allem aber geht es um die Optik: Die 31-Jährige verausgabt sich tänzerisch in einem feurig-glitzernden Catsuit unter Dauereinsatz auch ihrer langen Lockenmähne. Ein Männertraum mit Sexfaktor 100. „Die Barbie hat was zu sagen“, singt dagegen die Israelin Netta und klinkt sich in die #MeToo- und Anti-Mobbing-Kampagne ein: Nicht nur Frauen mit Modelmaßen sind schön, lautet ihre Botschaft. Wie ein Spielzeug wolle sie sich auch nicht behandeln lassen, verkündet ihr aufmüpfiger Refrain. Zu ihrem K-Pop gibt es Fantasielaute, Hühnergegacker, grelle Farben, Winkekatzen und eine Art Raumstation-Kommandoebene. Musik sei das nicht, meinte Vorjahressieger Salvador Sobral aus Portugal. Der Jazzer verkennt damit den Kern des Wettbewerbs. Beim ESC geht es immer auch darum, Horizonte zu erweitern. Und Vielfalt zu feiern. So hat die diesjährige Ausgabe wieder ganz unterschiedliche Vorlieben offenbart: Serbien trat als einziges Land folkloristisch an, im Hirtenlook mit Geflöte. Die Dänen gaben sich als Wikinger, stampften aber doch arg brav auf der Stelle – weichgespült wie auch der albanische Softrocker. Metal samt Screamo-Finale kam dagegen aus Ungarn, zarte Balladen aus Spanien und Litauen, Opernhaftes aus Estland. Kuriose Bühnenshows boten nur wenige, allen voran gleich der erste Künstler des Abends: Mélovin aus der Ukraine entstieg vampirhaft einem Sarg, der sich später als Klavier entpuppte, irritierte mit bizarrer Kontaktlinse und biss eine der vier Moderatorinnen in die Schulter. Sein Song aber war erstaunlich brav. „Monsters“ wiederum hieß der finnische Beitrag, zu dem sich Sängerin Saara Aalto auf eine Art rotierendes Glücksrad spannen ließ. Dennoch wurde sie nur Vorletzte. Aalto aber steht als bekennende Homosexuelle wie der Ire Ryan O`Shaughnessy, der seine Liebesballade von zwei Männern tänzerisch interpretieren ließ, auch für die nicht zu unterschätzende gesellschaftspolitische Dimension des Wettbewerbs, der für mehr Offenheit gegenüber gleichgeschlechtlichen Lebensmodellen wirbt. Auch dezidiert politisch ging es diesmal zu: Frankreich schickte einen 80er-Ohrwurm des Duos Madame Monsieur ins Rennen. Émilie Satt versetzt sich darin in ein auf einem Flüchtlingsboot geborenes Baby. Ein Aufruf zu mehr Menschlichkeit, ohne erhobenen Zeigefinger. Textlastiger arrangierte das italienische Duo Ermal Meta & Fabrizio Moro sein Lied „Non mi avete fatto niente“ gegen Krieg und Terror. Das Publikum vergab dafür Bronze, am Ende stand der fünfte Platz: ESC-Fans mögen es komplexer als gedacht. Und zu altmodisch und kalkuliert darf ein Stück nicht sein: So lagen der Balkan-Sommerhit aus Moldau, der Norweger Alexander Rybak, 2009 noch Sieger, und der Justin-Bieber-Epigone aus Schweden in der Publikumsgunst hinten.

Frauenpower: Siegerin Netta aus Israel.
Frauenpower: Siegerin Netta aus Israel.
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