Automobilität Freie Bürger bleiben daheim: Über einen Autofahrer-Mythos der keiner mehr ist

Das Auto ist sich selbst genug: Autowerbung als Vorschau und Gegenentwurf zum Alltag der Stausteher auf der A61 zwischen Miel un
Das Auto ist sich selbst genug: Autowerbung als Vorschau und Gegenentwurf zum Alltag der Stausteher auf der A61 zwischen Miel und dem Nahetal Richtung Ludwigshafen.

Von Assistenzsystemen zurechtgewiesen, der Verkehr stockt, vor dem Brenner Stau, E-Autofahrer schleichen über die Autobahn. Das Tempolimit hat seinen Schrecken verloren. Gerade jetzt in den Ferien ist zu erleben: Der Mythos von der freien Fahrt der freien Bürger ist längst passé. Ist das schlimm? Eher nicht.

Endlose Landschaft, im Hintergrund ein Gebirgszug, der Südwesten Spaniens, Luftgesäusel, Schafsgeblöke, entfernungsgedimmt. Eine Straße wellt sich durch die Gegend. Erst einmal lange – nichts. Dann ist ein Auto beim Auf- und Abtauchen zu sehen, das stracks auf die Betrachtenden zufährt. Das Naturrauschen stockt als es näher saust – und vorbei. Der Preis für die beste Nebenrolle in „Raubt selbst dem Wind den Atem“ geht an einen S5 der Marke Audi.

Der Werbespot, ein Sehnsuchtsbild, wirkt wie ein Gegenentwurf. Er erzählt im Peter-Handke-haften Ambiente die Rückseite der automobilen deutschen Gegenwart. Mit der schnöden Realität von uns Staustehern im angejahrten Ford Fusion in Normdunkelblau auf der A61 von Mönchengladbach Richtung Ludwigshafen zwischen Miel und Nahetal haben der Spot und der locker 100.000 Euro teure Wagen natürlich so viel zu tun wie ein Mett-Igel mit Molekularküche. Selbstredend ist in dem vorbeischießenden Auto niemand zu sehen.

Der Wagen scheint verwaist, sich selbst genug. Eine Vorschau auf das völlig menschenunabhängige autonome Fahren. Chauffeure und Chauffeusen würden in ihrer erwiesenen Unvollkommenheit das Bild auch nur stören. Wer je von seinen Assistenzsystemen beim Einparken, Spurhalten, Bremsen, Augen-gerade-aus-Halten zusammengepiept und korrigiert worden ist, wird das geknickt auch einsehen. Die freie Fahrt für freie Bürger jedenfalls, die Selbstverwirklichung im Individualverkehr, zuletzt noch vom Bundesverkehrsminister Andy Mautdesaster Scheuer (CSU) mit Fetischcharakter versehen, ist längst eine krisenhafte Illusion.

Das Tempolimit als uneingeführte Realität.
Das Tempolimit als uneingeführte Realität.

Und das nicht nur wegen der Degradierung des Menschen zum Erfüllungsgehilfen, wegen des allseits stockenden Verkehrs, der gesperrten oder „rückgebauten“, respektive abgerissenen Brücken, der holprigen Strecken, in zweiter Reihe parkenden Amazon-Pakete-Auslieferer und über die Autobahn schleichenden E-Autofahrer, die um ihre Reichweite fürchten und den Verkehr aufhalten. Deutliches Indiz für die Entzauberung ist auch die Haltung der Deutschen zu ihrer ehemals vorrangig bekämpften Lieblingsbevormundungsvorschrift.

Mehrheitswunsch Tempolimit

So wird die Möglichkeit eines allgemeinen Tempolimits auf Autobahnen, das abseits der allgegenwärtigen Geschwindigkeitsbegrenzungen gilt – früher von vielen als persönlicher Affront aufgefasst –, inzwischen nicht nur vom Umweltschutzverband BUND, sondern selbst von der Mehrheit der rund 22 Millionen Mitglieder des ADAC willkommen geheißen. 55 Prozent pro, 40 Prozent contra, der Rest unentschieden, hat die jüngste Erhebung aus diesem Jahr ergeben. 1973, als die sozialliberale Regierung unter Willy Brandt während der Ölkrise aus Treibstoffersparnisgründen Tempo 100 auf Autobahnen (Landstraßen 80) einführte, hat der Automobilclub dagegen noch mit einer massiven Antikampagne opponiert.

„Freie Bürger fordern freie Fahrt“, stand auf Millionenfach verteilten Aufklebern. Ein Spruch von nationalcharakterlichem Rang. Eine Verlängerung der Maßregelung scheiterte dann auch im Bundesrat. Mittlerweile schreibt sich den Slogan im weitesten Sinn lediglich die FDP noch auf die Fahnen.

Das heißt, die AfD ist naturgemäß strikt dagegen, mit der Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen auch das linksspurig einsetzende Dominanzgefühl zu regulieren. Und gleichwohl – oder weil? – das Umweltbundesamt errechnet hat, dass sich mit einer generellen Beschränkung auf 120 Kilometer pro Stunde die Treibhausemissionen jährlich um 4,2 Prozent verringern ließen: um 6,7 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente. Und apropos: Das Thema ist seit der Nazizeit ideologisch relevant.

Hitlers Freifahrtschein

„Volle Freizügigkeit eines Volkes“, sich der modernen Verkehrswirtschaft zu bedienen, forderte Adolf Hitler alsbald nach seiner sogenannten „Machtergreifung“ 1933. Die in der Weimarer Republik geltende Geschwindigkeitsbegrenzung auf Tempo 30 wurde gleich kassiert. In einem Text von Leon Birck in der Kulturzeitschrift „Merkur“ ist die Geschichte unter dem Titel „Freie Fahrt für freie Volksgenossen“ nachzulesen. Sechs Jahre später musste der „Führer“ den Freifahrtschein wieder revidieren.

Es seien durch die Automobilität so viele Menschen umgekommen wie deutsche Soldaten im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, hatte er zu konstatieren. Ab sofort galt Tempo 100 außerorts, 60 in der Stadt. Der Allzeit-Gröfaz fürchtete offenbar, noch mehr Soldaten zu verlieren. Im Krieg wurden die Limits – auch wegen Treibstoffknappheit – nochmals um jeweils 20 km/h reduziert.

Der Kampf der Ideologen

Nach dem Krieg dann geriet die Debatte unter die Räder der Systemkonkurrenz. In der BRD herrschte seit 1957 freie Fahrt, bis 1957 sogar innerorts. In der DDR galt ab 1956 Tempo 100 auf Autobahnen, 80 auf Landstraßen. Bei Topspeed 125 km/h für einen Trabant war, sich daran zu halten, auch keine so ganz große Last. Und andererseits erwies sich das Limit durch den delinquenten Westbesuch für den Staat auch als lukrativ. Auf der anderen Seite feierte man sich im Westen in seinen ungleich überlegenden Vehikeln rasend gerne selbst.

Im offiziellen Wendejahr 1990 sagte der damalige Verkehrsminister Friedrich Zimmermann (CSU) mit Blick auf die fünf neuen Bundesländer triumphal, man müsse jetzt endlich „Schluss machen mit den sozialistischen Verkehrsideologien“. Er meinte das Tempolimit auf Autobahnen, für das sich seinerzeit 89 Prozent der Ostdeutschen aussprachen. 1992 galt es trotzdem auch dort nicht mehr. Mit dem Effekt einer Verdreifachung der Verkehrstoten.

Wer fährt? Der Mensch als Erfüllungsgehilfe der Systeme.
Wer fährt? Der Mensch als Erfüllungsgehilfe der Systeme.

Seither hat sich die manische Verbindung von Auto und Autonomie, Fahrzeug und Freiheit schleichend entkoppelt. Die Losung von der selig machenden freien Fahrt habe ihren „Sinn“ verloren, wie Thomas Steinfeld in der „Süddeutschen Zeitung“ schreibt. In den Städten mehr als auf dem flachen Land, auf dem, wenn überhaupt, am Tag zwei Busse verkehren und der Pkw schlicht Teilhabe an der Anderswelt ermöglicht. Aber auch dort ist das Verhältnis mutmaßlich weniger emotionalisiert und ins Praktische gewendet. Auch im Angesicht der normativen Kraft des Faktischen. Infrastrukturell hakt es in Deutschland an allen Ecken und Enden.

Option Führerschein

„Der als Nomade geprägte Mensch erinnert sich an ein Dasein vor der Sesshaftwerdung“, heißt es in einem Text des Autors und Journalisten Gerhard Matzig. Die Mobilität der Moderne sei Aufbruch und Rückkehr in einem. Allerdings scheint sich mittlerweile das ganze wieder Richtung Vormoderne umzukehren. Was dafür spricht? Zum Beispiel die Tatsache, dass es immer mehr Autos gibt, aber weniger Verkehrsaufkommen, wie Matzig im selben Artikel berichtet. Nichts mit „Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“, die weltbewegende Songzeile der Elektropionierband Kraftwerk. Die Jungen machen den Führerschein immer öfter nur als Option. Wer es sich leisten kann, lässt mittlerweile sein Auto einfach stehen, statt Lebenszeit im stockenden Verkehr zu verbringen – und bleibt zuhause im Homeoffice. Der nächste Schritt ist die freie Fahrt der freien Bürger – und Bürgerinnen – im Virtuellen, wie in einer Kurzfilmreklame für einen Opel vorgeführt. Darin sieht man das Auto im luftleeren Raum weißer Flächen umhercruisen. Und kein Tempolimit, nirgends.

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