Kultur Heidelberger Frühling: Lasst uns wie Orpheus singen

Spurensuche: Cellist Jean-Guihen Queyras, Lyra-Spieler Sokratis Sinopoulos und die Percussionisten Bijan und Keyvan Chemirani.
Spurensuche: Cellist Jean-Guihen Queyras, Lyra-Spieler Sokratis Sinopoulos und die Percussionisten Bijan und Keyvan Chemirani.

Auf die Spuren des mythischen Sängers Orpheus begeben sich vier Musiker aus Orient und Okzident, die nach den Ursprüngen ihrer Kunst suchen: Jean-Guihen Queyras mit seinem Cello, der Lyra-Spieler Sokratis Sinopoulos und die Rhythmus-Virtuosen Bijan und Keyvan Chemirani. Ihr Weg führt ins sagenhafte Thrakien und wieder zurück in die Gegenwart – zu einem der wohl faszinierendsten Konzerte des Heidelberger Frühlings.

Orpheus, Sohn der Muse Kalliope und des thrakischen Flussgottes Oiagros: In der griechischen Sage gilt er als Erfinder der Musik überhaupt, in der abendländischen Kultur hat ihn Claudio Monteverdi zu einem der ersten Opernhelden gemacht. Sein Ruhm drang von Thrakien, dem heutigen Bulgarien, nach Westen wie nach Osten – so wie aus dem Orient Poesie und Musik ihren Weg über Byzanz ins Abendland fanden. Die Brücke dorthin: Thrakien. Was geschehen kann, wenn sich Traditionen, die sich über Jahrhunderte auseinander entwickelt haben, erneut begegnen und in Dialog miteinander treten, war am Mittwochabend in der im Halbdunkel liegenden Heiliggeistkirche zu erleben. Dort steckt der franko-kanadische Cellist Jean-Guihen Queyras, Artist in Residence des Heidelberger Frühlings, allerdings erst einmal die Klangräume sowohl seines Instruments als auch jene der Kirchenakustik ab, in der jeder Ton, gezupft oder gestrichen, Sekunden nachhallt. „There’s The Rub“ heißt das Stück für Cello solo von Marko Stroppa, Jahrgang 1959. Kein Orpheus also, sondern ein Zeitgenosse aus Italien. Aber dann kommt der Grieche Sokratis Sinopoulos mit seiner Lyra: von Orpheus erfunden, zuerst nur gezupft, vor allem auf Kreta dann auch mit dem Bogen gestrichen, geradezu winzig im Vergleich zu Queyras’ Cello. Und manchmal kann man dann plötzlich nicht mehr auseinanderhalten, welches der beiden Instrumente da gerade im Einsatz ist. Wer wie Sinopoulos oder sein Lehrer Ross Daly die alten Musiktraditionen neu beleben will, verwendet oft Tonarten, die phrygisch, dorisch, lydisch genannt werden. In Melodien, wie sie auch das abendländische Mittelalter kannte, das in der Heidelberger Kirche mit dem Grabmal Kurfürst Rupprechts von der Pfalz und seiner Gemahlin noch präsent ist. Melodien, die sich unendlich fortzusetzen scheinen und ihre Kraft durch die sie begleitenden Rhythmen schöpfen. Jetzt kommen die Brüder Bijan und Keyvan Chemirani mit Zarb und Daf, Percussioninstrumente aus Persien, ins Spiel. Wer je an die Überlegenheit abendländischer Musik geglaubt hat, dürfte angesichts der Vielfalt orientalischer Rhythmen blass vor Neid werden und seine Haltung möglicherweise überdenken. „Nihavent Semai“ heißt ein Stück von Sinopoulos, das die alten Formen und Rhythmen aufnimmt, „5 beat“ (Fünfer-Takt) eines des französischen Jazzmusikers Frank Leriche. Was ist Komposition, was Improvisation? Letzteres fällt vor allem klassisch geschulten europäischen Musikern oft schwer. Die vier, die in Heidelberg die Grenzen von Raum und Zeit überwinden, kennen keine Berührungsängste. Und dann geschieht etwas Seltsames: Kompositionen wie Witold Lutoslawskis Sacher-Variationen für Solo-Cello oder die Miniaturen „Zeichen, Spiele Botschaften“ von György Kurtag, Zeitgenössisches, von vielen Konzertbesuchern oft als schwere Kost empfunden , fügen sich nahtlos ein in den musikalischen Strom. Die Spuren der Herkunft verwischen. „Thrace. Sunday Morning Sessions“ heißt die CD der vier Musiker mit ganz ähnlichem Programm. Das französische Wortspiel „Thrace“ und „trace“ (Spur) bleibt unübersetzbar. Während des „Trace Sunday Morning“ aber, zum Abschluss des Konzerts, ist es am Mittwochabend in der Heiliggeistkirche hell geworden. Irgendwo zwischen Jam-Session und Musica viva, zwischen Orient und Okzident, zwischen Thrakien und Heidelberg, hat sich mit einem Mal eine Ahnung eingestellt von der Zauberkraft des Orpheus, der mit seinem Saitenspiel und Gesang wilde Tiere besänftigte und einen paradiesischen Frieden herbeimusizierte. Muss man jetzt noch erwähnen, dass es unmöglich ist, zu aufeinander folgenden Sieben- und Neun-Achtel- oder Fünf-Viertel-Rhythmen zu marschieren?

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