Kultur Heidelberger Stückemarkt: Gastspiele aus Berlin und Göttingen

Alles ist Pose in der künstlichen Kunstwelt um „Fräulein Agnes“ (Rebecca Klingenberg, ganz links).
Alles ist Pose in der künstlichen Kunstwelt um »Fräulein Agnes« (Rebecca Klingenberg, ganz links).

Auf den „Heidelberger Frühling“ folgt mit dem „Heidelberger Stückemarkt“ gleich das nächste Festival in der Neckarstadt. Bevor am Wochenende das Gastland Südkorea seinen Auftritt haben wird, gastieren deutschsprachige Bühnen mit wichtigen Stücken in Heidelberg. Zum Beispiel das Deutsche Theater Göttingen mit Rebekka Kricheldorfs Satire „Fräulein Agnes“ und das Deutsche Theater Berlin mit Thomas Melles autobiografisch grundiertem Stück „Versetzung“.

„Werde ich je wieder leben können?“, fragt Roland Rupp seine Frau Kathleen gegen Ende von Thomas Melles „Versetzung“ ebenso verzweifelt wie bodenlos deprimiert. Die Antwort kennt er nur allzu gut. Sie lautet: Nein! Sein Leben liegt in Trümmern, Job weg, Frau weg, sein gerade erst geborenes Kind darf er nicht sehen. Roland war ein engagierter und überaus beliebter, bei manchen Mädchen vielleicht sogar zu beliebter Lehrer an einem Gymnasium, dessen Leitung als Rektor er eigentlich übernehmen sollte. Alles lief glänzend in seinem Leben. „Wenn’s kommt, dann kommt’s eben knüppeldick, auch im Guten“, meint seine Frau. Nun, das mit dem Guten wird sich schnell ändern. Es gibt da einen dunklen Fleck in seiner Vergangenheit, dessen Schatten nun auch auf seine Gegenwart und Zukunft fallen wird. Roland litt zehn Jahre vorher unter einer manisch-depressiven Erkrankung. Er hat Dinge getan, von denen er heute nichts mehr weiß, wurde in der Geschlossenen behandelt, braucht Medikamente, um im Alltag bestehen zu können. Die Krankheit scheint er im Griff zu haben, doch immer wieder versteht er Sätze völlig falsch, nimmt er Dinge wahr, die für andere nicht existieren. Seine Krankheit hat Spuren hinterlassen, im Internet, bei Ex-Geliebten, in Gedicht-Publikationen. Er kann sie nicht auslöschen, sie nicht besiegen. Immer mehr wird sein Geheimnis an die Öffentlichkeit gezerrt, immer gefährdeter wird sein Gesundheitszustand. Bis zur Katastrophe. Als seine Kollegin Inga Römmelt statt seiner zur Rektorin ernannt wird, weil er den Eltern als Bedrohung ihrer Kinder gilt, zugleich angeblich den guten Ruf der Schule beschädigt, bricht die Erkrankung vollends aus. Er wird gewalttätig, muss vom Kollegium an das Aquarium im Rektoratszimmer (Bühne: Johanna Pfau) gefesselt werden. Hier endet ein großer Lebensplan in einer schwarzen Wolke. Kein Glück mehr, nirgends. Thomas Melle weiß genau, wovon er hier schreibt. Mit seinem Roman „Die Welt im Rücken“ hat er seine eigene bipolare Störung schonungslos öffentlich gemacht. Sein Stück stellt nun ebenso direkt die Fragen an unsere Gesellschaft: Wie gehen wir mit solchen Erkrankungen um? Verbannen wir solchermaßen Geschwächte, Eingeschränkte aus unserem leistungsorientierten Denken? Machen wir sie zu Außenseitern? Zu Opfern? „Ist man ein Opfer, ist die ganze Welt Täter“, schreit es aus Roland heraus. Und wie gehen wir dabei vor: durch Verrat, Intrigen, Verleumdungen, gestreute Gerüchte? Oder sollten wir nicht vielmehr in der Lage sein, das Anderssein, das im Wortsinne Ver-Rückt-Sein zu akzeptieren? Die Regie von Brit Bartkowiak rückt genau diese Fragen in den Fokus, kann aber einige Längen in der zweiten Hälfte des Stückes nicht ausblenden. Daniel Hoevels spielt die Hauptfigur bis zur Selbstaufgabe, an seiner Seite schlägt sich die kurzfristig eingesprungene Wibke Mollenhauer mehr als tapfer in der Rolle der Kathleen Rupp. Während man Helmut Mooshammer als Rektor Schulz noch abnimmt, dass er wirklich versucht, Roland zu helfen, ist bei allen anderen Figuren klar, dass sie dessen Erkrankung zu ihrem Vorteil nutzen wollen: Das gilt vor allem für die Kollegen Inga Römmelt (Judith Hofmann) und Falckenstein (Christoph Francken), aber auch für die Eltern Manu Cordsen (Birgit Unterweger) und Lars Mollenhauer (Michael Goldberg). Verständnis haben eigentlich nur seine Schüler: Sarah (Linn Reusse) und Leon (Caner Sunar). Vor den Trümmern ihres Lebens steht am Ende auch die Hauptfigur in Rebekka Kricheldorfs „Fräulein Agnes“, das in Heidelberg vom Deutschen Theater Göttingen vorgestellt wurde. Rebecca Klingenberg rotzt in der Titelpartie zu Beginn vor dem Vorhang stehend dem Publikum ihren ganzen Hass auf Gott und die Welt vor die Füße. Da bleibt niemand ausgespart, darf sich jeder angesprochen fühlen. So viel Hass und Ekel auf die Menschen hat man vielleicht seit Molières „Menschenfeind“ nicht mehr auf der Bühne erlebt, auf den sich Kricheldorf auch bewusst bezieht. Diese Agnes, so zwischen 40 und 50, liiert mit einem viel zu gut aussehenden, viel zu jungen Mann namens Sascha (Christoph Turkay), war einst eine erfolgreiche Romanautorin, konnte nur leider den eigenen Ansprüchen nicht genügen. Also wechselte sie die Seiten und betreibt seither einen Kulturkritik-Blog mit dem Titel „Fräulein Agnes“. Um sich herum schart sie die verhinderten Genies der Szene, die sie aber eigentlich auch nur mit Verachtung straft. Ihr Lebensmotto stammt von Ingeborg Bachmann: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“ Danach handelt sie in ihren Texten. Sie vernichtet alles und jeden, sogar den eigenen Sohn mit seiner pubertierend-naiven Popband. Eigentlich ist ihr der ganze Kunstmarkt zuwider, wie ihr männliches alter ego Alceste möchte sie lieber aufs Land ziehen, doch da macht ihr der junge Lover einen Strich durch die Rechnung. Irgendwann aber geht sie mit ihrem größenwahnsinnigen intellektuellen wie moralischen Überlegenheitsgebaren, mit ihrem Tugendterrorismus zu weit. Ihre Freunde kehren ihr den Rücken zu, verlassen sie. Nun ist da niemand mehr, den sie noch hassen könnte. Außer sich selbst. Die Inszenierung von Erich Sidler macht aus dem Stück eine Körper-Installation zu Techno-Musik. Die Botschaft ist klar: Alles in dieser ach so kreativen Welt ist letztlich leere Pose. Nur der Hass, der ist echt.

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