Kultur Im Auge des romantischen Orkans

Stellt sich bedingungslos dem dichterischen Wort: Christian Gerhaher.
Stellt sich bedingungslos dem dichterischen Wort: Christian Gerhaher.

„Frage“ hat Christian Gerhaher seine jüngste CD betitelt, mit der er zusammen mit dem Festival „Heidelberger Frühling“ und seinem Plattenlabel Sony eine Gesamtaufnahme aller Schumann-Lieder startet. Eine großartige CD, quasi aus dem Auge des Orkans der Romantik. Weltschmerz, in Töne gegossen. An kalten und dunklen Winterabenden besser nur in kleinen Dosen zu genießen. Eines aber bestimmt: ganz große Liedkunst.

Der 1969 geborene Christian Gerhaher ist ein großartiger Wolfram (in Richard Wagners „Tannhäuser“), ein eindrucksvoller Amfortas (in dessen „Parsifal“), er hat in der Johann-Strauß-Operette „Die Fledermaus“ ebenso brilliert wie in der Debussy-Oper „Pelléas et Mélisande“. Um nur Beispiele zu nennen. Sein sängerisches Gestaltungspotenzial macht zum Teil sprachlos, zumal er bis an die Grenzen des kaum mehr noch Singbaren geht, wie dies beispielsweise im Münchner „Parsifal“ der Fall war. Doch Christian Gerhaher ist eben auch der vielleicht aktuell herausragende deutsche Liedinterpret. Ein Sänger, der die Texte der Schubert-, Schumann- oder Wolf-Lieder auch intellektuell durchdringt, sie hinterfragt, über ihren Aussagegehalt reflektiert. Ein Sänger auch, der vermeintliche Gewissheiten in Frage stellt und sich ungeschützt von jeder Pose der Liedinterpretation stellt. Nur seine Stimme, das Klavier und der Text. Sonst nichts. Nur große, ganz große Kunst. Auf der CD, die Gerhaher wie gewohnt mit seinem fantastischen Begleiter Gerold Huber aufgenommen hat, finden sich unter anderem Robert Schumanns „Sechs Gesänge“ (opus 107), „Romanzen und Balladen“ (opus 49) und die zwölf Lieder nach Gedichten von Justinus Kerner (opus 35). Also der eher seltener zu hörende Lieder-Schumann, dessen Zyklen „Dichterliebe“ (nach Heinrich Heine) und „Liederkreis“ (nach Joseph von Eichendorff) den berühmten Schubert-Zyklen absolut ebenbürtig sind. Ja, vielleicht sogar so etwas wie den Höhepunkt des romantischen Kunstliedes darstellen. Für Gerhaher sind auch die kleineren und unbekannteren Lied-Sammlungen Schumanns keine Zufallsprodukte. Er versteht sie als Miniaturzyklen beziehungsweise stellt die Kerner-Lieder den beiden genannten Zyklen gleichberechtigt an die Seite. Völlig zu Recht, wenn man diese CD gehört hat, die Maßstäbe setzt in der Schumann-Interpretation. Es ist gar nicht so sehr Gerhahers Ausnahmestimme, die diese Aufnahme trägt. Sein stimmliches Potenzial ist ohnehin über jeden Zweifel erhaben. Es ist vielmehr die Bedingungslosigkeit, mit der er sich dem dichterischen Wort stellt, zugunsten der Textauslegung auch auf sängerischen Glanz verzichtet. Er nimmt sich zurück und gestaltet. Oft genug im Piano, kaum mehr noch vernehmbar, fast schon flüsternd, an der Grenze zum Deklamieren, ja zum Sprechgesang. Er formt jeden einzelnen Vers als vollendete musikalische Phrase – bei unfassbarer Textverständlichkeit. Schumanns Kompositionen sind zum Teil von einer erschütternden Schlichtheit und damit auch Direktheit. Man darf dies eigentlich gar nicht anders singen. Zumindest will man es vielleicht gar nicht mehr anders hören. Das führt uns dann mitten hinein in das Auge des Orkans des romantischen Kunstliedes. Denn diese Kompositionen sind quasi eine Feier des Weltschmerzes. Mitunter in ihrer Ausweglosigkeit noch weit über Schuberts „Winterreise“ hinausgreifend. Verzweifelter, resignierter, verlorener wird dann das lyrische Ich im Lied vielleicht erst wieder bei Gustav Mahler sein. Oder bei Hugo Wolf – und in den „Vier letzten Liedern“ von Richard Strauss. Das ist eine Traditionslinie, die bei Schubert beginnt, Schumann als ebenbürtigen romantischen Bundesgenossen kennt und von den genannten Komponisten im 20. Jahrhundert wieder aufgegriffen wird. Ein gewichtiges, einzigartiges musikalisches Erbe im deutschsprachigen Raum, das für sein Fortbestehen genau solche Sänger wie Christian Gerhaher benötigt. Aber mit Vorsicht zu genießen. Weltschmerz ist eine hochgradig ansteckende Krankheit. Die Kerner-Lieder sind von einer erschütternden Resignations-Gewalt. Natürlich ausgelöst von dem Erlebnis einer unglücklichen, unerfüllbaren Liebe. Schon ganz zu Anfang der Sammlung wird erzählt, dass die große Lebensliebe des lyrischen Ich sich einen anderen, einen quasi überirdischen Liebhaber zugelegt hat. Sie wird Nonne, und es zerbricht das Herz des Sängers. Gerhaher stellt das in einem fast schon lakonischen Ton fest. Konstatiert den Zusammenbruch eines ganzen Lebenstraumgebäudes so im nebenbei. Die Musik weiß ohnehin mehr zu erzählen. Und endet in der ultimativen Hoffnungslosigkeit. Kein Lichtschein mehr. Ewige Dunkelheit. Die romantische Nacht senkt sich auf uns herab: „Dass ich trag Todeswunden,/ das ist der Menschen Thun;/ Natur liess mich gesunden,/ sie lassen mich nicht ruhn!“ Noch Fragen? Nils berichtet CD-Tipp „Frage“, Lieder von Robert Schumann. Christian Gerhaher (Bariton), Gerold Huber (Klavier), Sony.

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