Kultur Im Augenblick des Untergangs

Ralf Rothmann
Ralf Rothmann

Wer so viele Traumatisierungen durchleidet wie die junge Heldin des neuen Romans von Ralf Rothmann, wird das Prinzip Hoffnung für immer verwerfen. Die zwölfjährige Luisa Norff erlebt im Frühjahr 1945 alle Entsetzlichkeiten des Zweiten Weltkriegs, verliert ihren Vater durch Suizid, wird von ihrem eigenen Schwager, einem SS-Offizier, während einer Geburtstagsfeier vergewaltigt und stirbt fast an einer Salmonellenerkrankung.

Seine Erzählung vom Triumph der Bestialität im verwüsteten Deutschland rückt Rothmann mit einem riskanten Kunstgriff in die Tradition der Barockdichtung. Im Motto seines Romans zitiert er Andreas Gryphius. Und parallel zu seiner Imagination der letzten Kriegswochen auf einem norddeutschen Landgut etabliert er zusätzlich noch einen mittelalterlichen Chronisten, der von den Gräueltaten während des Dreißigjährigen Krieges Zeugnis ablegt. Dieser fiktive Chronist Bredelin Merxheim berichtet in der Manier einer frommen Legende von dem Versuch, eine kleine Kapelle über einen See zu transportieren. Nach dem Ende der kriegerischen Verheerungen ist die Kirche, die den Verzweifelten Hoffnung bringen sollte, auf dem Grund eines Sees versunken. Es sind solche religiösen Motive, die für Rothmann-Skeptiker wohl schwer verdaulich bleiben. In der Fortschreibung seines aufwühlenden Meisterwerks „Im Frühling sterben“ (2015) konfrontiert uns Rothmann zudem mit einem äußerst irritierenden Romanfinale. Luisa besucht nach dem Ende der Kampfhandlungen ein Karmelitinnen-Kloster, das während des Krieges als Lazarett für Wehrmachtsoffiziere diente. Hier ist es nun eine Inschrift auf dem Türsturz der Kapelle, die der Heldin neuen Mut gibt. Es sind Zeilen des römischen Dichters Horaz, die Luisa neue Hoffnung schöpfen lassen: „Non omnis moriar – ich werde nicht ganz sterben, ein großer Teil von mir wird der Todesgöttin entgehen.“ Nach einem Gespräch mit der Priorin des Klosters, die von ihrem religiösen Erweckungserlebnis berichtet, erklärt Luisa in den Schluss-Sequenzen des Romans kategorisch: „Ich möchte auch Nonne werden.“ Man darf es eine stille Provokation nennen, wenn Rothmann mit einer solchen religiösen Pointe den säkularen Konsens seiner Leser reizt. Gegen den sehr erfolgreichen Vorgängerroman „Im Frühling sterben“ sind nach einer ersten Welle begeisterter Zustimmung gravierende Einwände vorgetragen worden. Rothmanns Erzähler, so schrieb damals Roman Bucheli in der „NZZ“, versetze sich nach Art eines Kolportage-Romans mitten in das Kriegsgeschehen, seine falsche Unmittelbarkeit sei nicht weit vom Kitsch eines Heinz G. Konsalik entfernt. Im neuen Roman „Der Gott jenes Sommers“ knüpft Rothmann nun direkt an das Setting des Vorgängerbuches an. Luisa, die Träumerin und enthusiastische Leserin von Margaret Mitchells „Vom Winde verweht“, verliebt sich in den Melker Walter. Dieser Walter Urban ist noch als der Held des Romans „Im Frühling sterben“ in Erinnerung, der während eines Dorffestes zwangsrekrutiert und als letztes Aufgebot der Waffen-SS an die Front in Ungarn geschickt wird. Auch die aus Rothmanns Romanen bekannte Präsenz von Tieren als Schöpfungszeugen oder als Spiegel menschlicher Schicksale wird wieder stark betont. In „Der Gott jenes Sommers“ rücken nun drei junge Frauen ins Zentrum des Geschehens: Die junge Luisa, die binnen weniger Wochen aller Illusionen über die Natur des Menschen beraubt wird, ihre hedonistisch gestimmte Schwester Sibylle, die etwas plakativ als Nymphomanin dargestellt wird, und ihrer beider Halbschwester Gudrun, die hier als ideologisch verblendete Nazi-Braut firmiert. An einigen Stellen neigt der Autor dabei zur überdeutlichen Markierung der positiven und negativen Helden. Auf einem ausschweifenden Fest anlässlich des 40. Geburtstags des SS-Mannes Vinzent Landes demonstriert zum Beispiel die geladene Nazi-Prominenz die Arroganz der Macht und zeigt alle Untugenden einer moralischen Verrohung. Frauen werden zum sexuellen Beuteobjekt, die stupiden Propagandaphrasen fungieren ein letztes Mal als Maximen des Handelns. Der Krieg rückt immer näher an das Landgut heran, in dem sich die Familie Luisas noch Anfang 1945 wie in einer Oase des Friedens wähnen konnte. Jetzt strömen immer mehr Flüchtlinge auf das Gut, aber noch im Augenblick des Untergangs berauscht man sich am Phantasma vom „Endsieg“. Ein abgestürzter Pilot der Engländer wird vom SS-Mann Vinzent kurzerhand liquidiert. Wer mag nun aber inmitten der Grausamkeiten „der Gott jenes Sommers“ sein, den Rothmanns Romantitel herbeizitiert? Er existiert nur in einer Nebenbemerkung des mittelalterlichen Chronisten Bredelin Merxheim. Die religiöse Sinngebung, die Luisas Bekenntnis am Romanende andeutet, bleibt ambivalent. Eine göttliche Instanz ist ebenso wenig in Sicht wie ein metaphysischer Trost. Rothmanns neuer Roman hat nicht die suggestive Wucht von „Im Frühling sterben“, konfrontiert uns aber erneut mit großer Dringlichkeit mit der schmerzhaften Vergangenheit deutscher Schuld, die sich auch in die Seelen der Nachgeborenen eingebrannt hat. Lesezeichen Ralf Rothmann: „Der Gott jenes Sommers“; Roman; Suhrkamp Verlag , Berlin; 254 Seiten; 22 Euro.

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