Kultur Knatsch im Treppenhaus

Der großartige Oliver Nägele ist Orgon, der betrogene Hausherr (im Hintergrund Nora Buzalka als Tochter Mariane).
Der großartige Oliver Nägele ist Orgon, der betrogene Hausherr (im Hintergrund Nora Buzalka als Tochter Mariane).

Er gilt als Prototyp des heuchlerischen Frömmlers, der den asketischen Gottesmann spielt, in Wahrheit aber sehr irdische Gelüste verfolgt. Heutzutage sieht man Molières Tartuffe meist etwas differenzierter, bei Mateja Koleznik schlittert er eher zufällig in die Rolle des Fieslings. Die Inszenierung der slowenischen Regisseurin war als Gastspiel des Münchner Residenztheaters bei den Festspielen in Ludwigshafen zu sehen.

Tartuffe fühlt sich sichtlich unwohl in diesem Haus. Unsicher und verschämt schleicht er umher, während die anderen angeschickert Party feiern, sich wahllos um den Hals fallen oder hyperventilierend den neuesten Tratsch austauschen. Die Familie Orgon ist im fortgeschrittenen Verfallsstadium, als der verzweifelte Hausherr einen vermeintlichen Erlöser anschleppt in der vagen Hoffnung, dieser möge dem oberflächlich-egoistischen Treiben ein gottgefälliges Ende bereiten. Dabei eröffnet er ihm überraschende Möglichkeiten, denen der arme Teufel nicht widerstehen kann. Tartuffe ist hier ein freundlicher Loser, der nur ein wenig teilhaben möchte am Leben der Reichen und Glücklichen, eine Weile dazugehören, ein paar warme Mahlzeiten abstauben, einem Quickie mit der zuwendungshungrigen Hausfrau ist er auch nicht abgeneigt. Philip Dechamps spielt ihn als schüchtern-smarten Leisetreter, der es immerhin versteht, eine Aura des Geheimnisvollen zu verbreiten. Das macht ihn nicht nur für Orgon zur perfekten Projektionsfläche für all die unerfüllten Wünsche und Begierden. Tartuffe spielt dieses Spiel mit zunehmender Selbstsicherheit mit. Als ihm der reiche Orgon nicht bloß die Tochter zur Frau geben will, sondern auch noch seinen gesamten Besitz überschreibt, braucht er eine Weile, um sein unerwartetes Glück zu fassen. Dann lacht er hysterisch auf und kugelt sich vor Vergnügen. Die 56-jährige slowenische Regisseurin, die Stücke gern auf ihren Handlungskern konzentriert und auf die dabei frei werdenden Kräfte setzt, hat auch „Tartuffe“ auf knappe 90 Minuten eingedampft, das Geschehen vom bürgerlichen Salon ins düstere Treppenhaus verlegt. Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt hat dafür einen fensterlosen, holzgetäfelten Aufgang erdacht: Eine Treppe führt zu einem breiten Podest, eine zweite weiter hinauf. Vom Podest nach hinten führen weitere unsichtbare Gänge irgendwohin, in den dunkelbraunen Holzwänden gibt es versteckt Türen und Schränke. Wie in einen aufgeschnittenen Maulwurfsbau schauen wir in diese Welt, ein Seelenlabyrinth in gedeckten Farben, in dem alle im Kreis laufen und keiner den Ausgang findet. Die Inszenierung erscheint wie eine Versuchsanordnung: Was passiert, wenn man einen, der anders ist, in eine von egoistischen Trieben gesteuerte Welt einschleust? Natürlich hätte einer wie dieser Tartuffe hier normalerweise keine Chance, aber der alternde Patriarch dieser zügellosen Sippschaft hat ihn sich zum Instrument erkoren. Mit Hilfe des Moralapostels will er seine schwindende Autorität zurückgewinnen. Der großartige Oliver Nägele gibt diesen Orgon als ziemlich ratlosen und reichlich erschöpften Hausherrn. Schnaufend schleppt er seine Leibesfülle die unerbittlichen Stufen hinauf und wieder hinunter, versucht sich mit kläglichen Basta-Erklärungen und übersieht dabei konsequent die offensichtliche Wahrheit. Sophie von Kessel als Ehefrau Elmire muss sich den grazilen Leib minutenlang begrapschen lassen, bis ihr im Schrank lauernder Gatte endlich bereit ist, Tartuffes übergriffige Begehrlichkeiten zur Kenntnis zu nehmen. Um Religion geht es hier eigentlich gar nicht, selbst Orgons Mutter, Madame Pernelle, macht bei Ulrike Willenbacher einen entschlossen konservativen, aber keinesfalls glaubensfanatischen Eindruck. Um ihr Erdenglück sind hier alle in höchstem Maße besorgt, um ihr Seelenheil kein bisschen. Am Ende, als Tartuffe von seinem frisch erworbenen Hausrecht Gebrauch macht und die Orgons aus ihrem Heim werfen lässt, da versuchen diese mit allerhand anderen Besitztümern und ein paar Flaschen Schampus auch noch schnell ein riesiges Heiligenbild in Sicherheit zu bringen. Religiosität ist im Hause Orgon nur mehr eine Sache von Kunstbesitz. Nicht gestrichen hat Mateja Koleznik den Boten des Königs, der in Molières recht aufgesetztem Komödienfinale als klassischer Deus ex Machina den Bösewicht entlarvt und dem braven Orgon Besitz und Ehre zurückgibt. Aber hier kommt der fahrige Beamte mit seiner zerknautschten Botschaft zu spät, die anderen haben schon das Weite gesucht, und nur Orgon hockt leblos zusammengesunken auf den Treppenstufen. Seinen Glauben an eine bessere Welt hatte er schon vorher verloren, und Puls hat er nun offenbar auch keinen mehr.

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