Alltag Letzte Rettung: Die Kunst entdeckt das Schaufenster (wieder)

Kunst im Vorbeigehen – links im Schaufenster Köpfe von Christian Feig, rechts Paravant von Eva Schäuble.
Kunst im Vorbeigehen – links im Schaufenster Köpfe von Christian Feig, rechts Paravant von Eva Schäuble.

In Landau, in Speyer, in Zweibrücken, plötzlich wird in den Schaufenstern der Städte Kunst gezeigt. Die gläsernen Ladenvitrinen sind das Ding des Moments und die letzte Rettung für den Flaneur mit Hunger auf Augenfutter.

Der Mann pflegt ein Intensivverhältnis zur Gegenwartsrealität. „Interrealismus“ nennt der in Moskau geborene Künstler Alexander Iskin seine eigene Kunstrichtung. Bunt verwirbelte, abstrakte Gemälde mit Gegenstandssplittern etwa. Untertitel „Der Grund ist die Zukunft“. Ja, kann gut sein, dass der 31-Jährige besser weiß, was gerade ansteht. Kurz vor dem ersten Lockdown vergangenes Jahr jedenfalls hat er der Realität vorauseilend beschlossen, sich in seiner Galerie vollkommen von der Außenwelt zu isolieren. Der Kontakt mit der Welt lief ausschließlich auf indirektem Weg. Jetzt sitzt Iskin am Zuschauertelefon. In Berlin. Inmitten seiner Werke. Hinter einer Glasscheibe im Schaufenster des Auktionshauses Villa Grisebach. Jeden Tag zwischen 17 und 18 Uhr nimmt der aufmerksamkeitsökonomisch versierte Künstler Anregungen entgegen. Kritik auch. Die Aktion ist mal wieder ganz auf der Höhe. Das Schaufenster ist, wo unter anderem alle Museen zu sind, der städtische Umraum des Moments.

Wo „das Leben lebt, träumt, leidet“

Was bleibt einem als Flaneur mit eingeschränktem Erlebnishorizont denn auch anders übrig. Entwöhnt und grimmig hält sich, wer Augenfutter braucht, an das – wie der Dichter Charles Baudelaire es nannte – „schwarze oder lichterfüllte Loch, in dem „das Leben lebt, träumt, leidet“. „Lèche-vitrine“ nennen die Franzosen den Schaufensterbummel, wörtlich übersetzt, Schaufensterlecken. Kein Wunder, dass die Glasfront von der Kunst als Schaubühne in der Not entdeckt wird.

Zweibrückens „Stadtgalerie“

Plötzlich hängen überall Bilder hinter Glas. In stillgestellten Restaurants zum Beispiel. In der Landauer Theatergasse bespielt die Pop-up-Galerie

des Bildhauers Martin Lorenz die Fenster der Uferschen Höfe. In Speyer hat das Kulturbüro der Stadt quasi offiziell bei Einzelhändlerinnen und Einzelhändlern nachgefragt, ob sie als Ersatz-Museen auf Zeit für die im Lockdown jeder Ausstellungsmöglichkeit beraubte Kunstszene fungieren wollen. Jetzt stehen für die nächsten zwei bis drei Monate Christian Uhls fotorealistische Porträts im Kaufhaus in der Wormser Straße aus. Regina Reim zeigt einige fein verästelte Werke in der Buchhandlung Osiander, Inge Liebschers „Showroom“ ist der Möbelladen Axel Walther. Und bei Stiller Radsport hängen Werke von Gerdi König zwischen E-Bikes in der Auslage.

25 Geschäfte sind an der Sehnsucht produzierenden Aktion beteiligt. Im Juli und August vergangenes Jahr in Zweibrücken stellten sogar 62 Künstlerinnen und Künstler ortsfremd in Geschäften für Alltagswaren aus. „Stadtgalerie“ nannte die City-Managerin Petra Stricker, eine Galeristin, damals die von ihr unter dem Eindruck der Coronafolgen angestoßene Intervention. Dabei kamen auch zahlreiche leerstehende Läden zum Zug, für die ohnehin stets und dringend eine weitere Verwendung gesucht wird. Die Kunstidee kam gerade recht. Schließlich sind die Schaufenster so etwas wie der Ausweis der Stadt.

Telefonläden versus Pariser Ambitionen

Wie sie aussehen, was sie beinhalten, gibt vermittelt Auskunft über die Verfasstheit und Lebensqualität eines Ortes. Sie anzusehen, ist so etwas wie aufschlussreiche soziologische Feldforschung. Allein der Vergleich der Auslagen, sagen wir: in den, na ja, 1A-Lagen von Ludwigshafen und Mannheim spricht dicke Bände. Auch weil die pfälzische Metropole zusätzlich zum die meisten Städte betreffenden Verödungsproblem ihre Innenstadt in eine Shoppingmall ausgelagert hat.

Hier also – überspitzt ausgedrückt – das Großangebot an Mobiltelefonen, Wettbüros und basarartigem Krimskrams, der den Blick ins Ladeninnere verstellt. In Mannheim dagegen bisweilen Pariser Ambitionen mit gewisser Tradition.

Die Fassade des später „arisierten“ jüdischen Kaufhauses Kander zum Beispiel, auf historischen Fotos um 1900 herum scheint sie ausschließlich aus Schaufenstern zu bestehen, die damals eine Hoch-Zeit erlebten. Die Arkadengänge rund um den Palmengarten des Pariser Palais Royal indes waren nicht zuletzt durch die Schaufensterparade schon 1786 eine Pracht.

Die Kunst der Schaufensterdekorateure

Die ganz große Zeit der Schaufenster war das 19. Jahrhundert. In Frankreich und England. Um die Wende zum 20. prägten die verglasten Sockel dann auch in Berlin das Stadtbild. Thomas Mann ließ seinen Helden Felix Krull Schaufenster als „glückliche Einrichtung“ loben, als Vorschau auf sein angestrebtes Luxusleben. Alfred Lichtwark (1852 bis 1914), der Direktor der Hamburger Kunsthalle, zählte Schaufenster zu den „künstlerischen Erscheinungen der neuen Zeit“. Giacomo Balla (1871 bis 1958) schwärmte 1918 in seinem Manifest „Universo futurista“, sie vermittelten in einer modernen Stadt mehr künstlerischen Genuss als sämtliche vielgelobten vergangenheitsbezogenen Ausstellungen. Und auch Fernand Léger hielt Schaufensterkunst gegenüber mancher Malerei und Skulptur für superior.

In der Malerei war die Auslage eine Zeitlang unabdingbarer Gegenstand, wie bei Camille Pissarro, August Macke, Ernst-Ludwig Kirchner oder Otto Dix zu sehen ist. Marcel Duchamp und Salvador Dalí schufen in New Yorker Geschäften surrealistische Installationen. Spätere Kunststars wie Robert Rauschenberg, Jasper Johns und Andy Warhol sind von Beruf Schaufensterdekorateure gewesen. Vielleicht ist jetzt die Zeit, die Verbindung wieder aufzunehmen.

Im Zeichen der Schlümpfe

„Gezielt“ könnten Schaufenster, jetzt, wo der Einzelhandel als ihr quasi natürlicher Daseinsgrund wegbricht, eine neue „kulturelle Rolle im Bild und Leben der modernen Stadt“ einnehmen, schreibt der italienische Architekturhistoriker und Kritiker Vittorio Magnago Lampugnani in seinem erhellenden Buch „Bedeutsame Belanglosigkeiten. Kleine Dinge im Stadtraum“. Zu den Pionieren dieser Entwicklung gehört im Übrigen auch ein Pfälzer. Der Landauer Wolfgang Strack stellte so bei der Documenta 1992 in einem Ladengeschäft im Kasseler Treppenviertel eine kulturell wertvolle Installation mit Schlümpfen in die Auslage. Auch kunstfremde Passanten waren entzückt.

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