Literatur Menschen werden Blumen: Nobelpreis für Han Kang

„Intensive Prosa, die sich historischen Traumata stellt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens aufzeigt“: Han Kang.
»Intensive Prosa, die sich historischen Traumata stellt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens aufzeigt«: Han Kang.

Die Südkoreanerin Han Kang bekommt den Nobelpreis für Literatur. In Deutschland ist sie vor allem durch ihren internationalen Bestseller „Die Vegetarierin“ bekannt, die traumselig-schauerliche Geschichte einer weiblichen Rebellion. Warum das eine sehr gute Wahl ist.

Han Kang also, eine wunderbare Entscheidung des Nobelpreiskomitees. Die 53-jährige Südkoreanerin schreibt radikale, schöne, grausame, zarte, scheinbar unscheinbare, eindringliche, schlicht: poetische Bücher. Kitschlos herzgreifende Romane, die von der zaghaften Annäherung eines erblindeten Altgriechisch-Lehrers und seiner verstummten Schülerin erzählen („Griechischstunden“, 2024). Oder von einer Frau, die in einer winterschlafenen europäischen, nordischen Stadt über einer Liste weißer Dinge sitzt, von nachhallender Trauer erfüllt über ihre Schwester, die als Neugeborene in den Armen ihrer Mutter gestorben ist („Weiß“, 2020).

In ihrer Heimat ist Han Kang, in Gwangu, in der Provinz Süd-Jeolla geboren, schon lange hochgepriesen. Überdies ist die Tochter eines Schriftstellers, die in Seoul kreatives Schreiben lehrt, als Sängerin bekannt – mit den sanft hingetupften Balladen eines Albums, das sie im Zusammenhang mit ihrem Buch „Stille Lieder“ aufgenommen hat. „Die Vegetarierin“ heißt der Roman, im Original 2007 herausgekommen und drei Jahre später verfilmt, mit dem sie auch in Europa berühmt wurde.

2016 bekam sie dafür den Internationalen Man-Booker-Preis, im selben Jahr ist er beim Aufbau-Verlag auf Deutsch erschienen, ein literarischer Bestseller. Es ist die traumselig-schauerliche Geschichte einer Rebellion, die ohne missionarischen Eifer auskommt – und in der Psychiatrie endet.

Yong-Hye, die Hauptfigur, von der aus mehreren Perspektiven erzählt wird, hat eines Nachts diesen Traum, von Blut und toten Tieren, in dem sie einen undurchdringlichen Wald durchquert, rohes Fleisch hängt an langen Bambusstangen. Plötzlich ist in ihr nur noch Schmerz und Gebrüll. Und Schuld. Sie isst von einem auf den anderen Tag kein Fleisch mehr, was in Südkorea ein Sakrileg bedeutet – und ein basser Affront – in einem Land der besessenen Karnivoren. Ein hartnäckiger Akt der fortan heftig bekämpften Verweigerung, der sich nach und nach auf die Teilnahme an der männerdominierten „Normalität“ ausweitet.

In der schweigt die Frau, sie kocht, erträgt – und konsumiert fraglos tote Tiere. Yong-Hye stattdessen sehnt sich danach, sinnlich-sinnbildlich mit der Natur zu verschmelzen.

Bei ihr verwandeln sich Menschen in Blumen, es kommt zu erotischen Vereinigungen mit Schlingpflanzen. Wenn man so will, zur frühromantischen, blaublumigen Erneuerung der Gegenwartsliteratur. Dabei ist Novalis („Ich gehe in ein anderes Blau“), der deutsche Dichter (1772-1801), nicht die einzige Referenz, die einem bei Han Kangs hochfrequenter Intensitätsliteratur und untergründiger politischer, feministischer Prosa einfallen kann. Dito also Ovid. Und Kafka. Und Murakami, der ewige japanische Nobelpreiskandidat. Sie erscheinen wie amalgamiert mit Märchentönen und der allbeseelten koreanischen Mythologie. Virtuos verwandelt zu etwas ganz Eigenem, einem Werk, das sich – wie es in der Jurybegründung heißt – „historischen Traumata stellt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens aufzeigt“. Nennen wir es doch einfach Weltliteratur. Große Freude.

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