Kultur Nicht allein in New York
Da sind am ersten Berlinaletag gleich Tränen geflossen – nicht, weil der Abschied von Festivalleiter Dieter Kosslick bevorsteht, sondern weil das Drama „The Kindness of Strangers“ zum Auftakt so anrührte. Die dänische Regisseurin Lone Scherfig plädiert in diesem New-York-Film für Mitgefühl, Gemeinschaft und die Kraft zu vergeben – ein idealer Eröffnungsfilm.
Was wurde Dieter Kosslick in den 18 Jahren als Berlinale-Chef schon für seine Eröffnungsfilme gescholten. Mal gab es peinlichen Kitsch, mal Hollywood-Starkino, ausgewählt vor allem, damit Träger großer Namen wie Nicole Kidman über den roten Teppich laufen konnten. Zuletzt aber hatte Kosslick ein gutes Händchen, der spätere Oscar-Erfolg „Grand Budapest Hotel“ eröffnete zum Beispiel die Berlinale 2014. Auch dieses Mal ist die Programmierung schlüssig: Ein Eröffnungsfilm setzt oft den Ton für das ganze Festival, ist Vorgeschmack auf die Atmosphäre der nächsten Tage. Und wenn da „The Kindness of Strangers“ etwas abfärbt, dürfte es ein schönes Miteinander werden. Schließlich begegnen sich in dem Film ganz fremde Menschen, die oft selbst haltlos sind, und werden einander zur Stütze. Das mag schon gleich auf die sonst so strenge Managerin der Pressevorführungen im stets überfüllten Kino abgefärbt haben, die alle so freundlich wie noch nie begrüßte. Die dänische Regisseurin Lone Scherfig ist ohnehin ein perfekter Gast für Kosslicks „Abschiedsparty“: Sie hat ihre Karriere sozusagen auf der Berlinale begonnen. Ihr Ensemblefilm „Italienisch für Anfänger“ gewann 2001 – wenige Monate darauf trat Kosslick sein Amt an – den Jurypreis. Es war der fünfte Film der Dogma-95-Bewegung, mit der sich dänische Filmemacher selbst strenge formale Regeln gaben, um sich ganz auf ihre Geschichten konzentrieren zu können. Scherfigs Dogma-Debüt fiel dennoch aus dem Rahmen: Anders als Dogma-Vorreiter wie Lars von Trier setzt sie auf Wärme, Menschlichkeit – und jede Menge Humor. Dieser fällt zudem nicht, wie sonst oft im dänischen Kino, schwarz oder beißend aus, sondern kommt leise, freundlich und tragisch unterfüttert daher. Und sie kann in ihren besten Arbeiten – „The Kindness of Strangers“ gehört dazu – selbst unglaublichste Wendungen so wahrhaftig inszenieren, dass die Gefahr von Rührseligkeit doch gebannt ist. Diese Gefahr ist bei ihrem neuen Film – dem ersten nach eigenen Drehbuch seit „Italienisch für Anfänger“ – durchaus groß gewesen: „The Kindness of Strangers“ erzählt von der jungen, ungebildeten, aber liebevollen Mutter Clara (fantastisch: Zoë Kazan), die mit ihren zwei kleinen Söhnen vor ihrem gewalttätigen Ehemann, einem Polizisten, in die Großstadt New York flieht. Dort aber sind sie ohne Obdach. Ihr Leben spielt sich in einer Bibliothek, einer Suppenküche und in der U-Bahn ab, bevor sie doch auf wohlmeinende helfende Hände treffen: Da ist die OP-Schwester Alice (Andrea Riseborough), die privat in der Suppenküche arbeitet und zudem eine Selbsthilfegruppe unter dem Namen „Vergebung“ leitet. Der Andrang ist groß, es gibt Wartelisten. Auch Marc (Tahar Rahim) schaut hier vorbei, Leiter eines altmodischen russischen Restaurants, das ein schrulliger Einwanderersohn namens Timofey (Bill Nighy) leitet: Scherfig gestaltet einen kuriosen Kosmos, in dem fast zu viele Zufälle Menschen zusammenführen. Doch trotz märchenhafter und bisweilen nah am Sentimentalen kratzender Note, verschweigt der Film auch nicht den dunklen Kern der Geschichte: Die im Grunde unfassbare Gewaltbereitschaft von Claras Mann bricht sich gegen Ende einmal auch deutlich Bahn. „Das Private ist politisch“, hat Dieter Kosslick als Slogan dieser 69. Berlinale formuliert. Und tatsächlich ist der Eröffnungsfilm, der ganz ohne Thesen auskommt, politisch. „Ich hatte das Gefühl, dass ich verpflichtet bin, einen Film über ein dringliches Thema zu drehen“, hat sich Lone Scherfig denn auch gestern gegenüber der Presse erklärt. „Jetzt, wo die Zeiten so schwierig sind, muss man wissen: Es gibt noch Hoffnung, Mitgefühl und Gemeinschaft.“