Literatur Schwebendes Verfahren: Dana Grigorceas Roman über die Tragweite der Kunst

2022 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet: Autorin Dana Grigorcea
2022 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet: Autorin Dana Grigorcea

Einen geheimnisvoll-rätselhaften Titel hat Dana Grigorcea für ihren neuen Roman gewählt: „Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“. Dabei handelt es sich nicht etwa um eine biologische Aussage, sondern um das Kunstwerk des fiktiven Bildhauers Constantin Avis. Mit dem Schiff gelangt der Künstler 1926 nach New York. Er soll bei dem Galeristen Max Milner eine Einzelausstellung haben. Doch als Avis in der amerikanischen Metropole eintrifft, ist Milner bereits verstorben. Fast ein Jahrhundert später inspiriert der Bildhauer die Schriftstellerin Dora Marcu zu einem Roman über ihn.

Mit Avis verbindet sie eine ähnliche Haltung zur Kunst. Wie weit kann einen diese tragen, und wie verbinden sich Kunst und Alltag? Außerdem ist Marcu Stipendiatin der Schweizer Adolph-Wehrli-Stiftung, die im Besitz der Statuette des fliegenden Vogels ist.

In permanentem Wechsel zwischen den Jahren 1926/27 und der Gegenwart, zwischen dem Bildhauer und der Schriftstellerin, entfaltet Grigorcea eine vielschichtige Geschichte, in der allerdings die Gestalt des Künstlers und sein Leben mehr Gewicht erhalten als das Geschehen um Dora. Diese hat das ehrgeizige Ziel, an ihrem ligurischen Urlaubsort ihr Buch zu vollenden. Dass sie kaum Zeit für ihren kleinen Sohn Lewis findet, der die Ferien in der Obhut des Kindermädchens Macedonia verbringt, bereitet ihr Gewissensbisse. Sporadisch blendet Grigorcea Szenen mit Doras Freund Regis ein, zu dem sie ein zwiespältiges Verhältnis hat. Sie hält ihn für beziehungsunfähig, braucht ihn aber als „Subjekt einer haltlosen Bewunderung“, um zu schreiben. Eine vielfältigere und gehaltvollere Geschichte ist Grigorcea um das Leben von Avis gelungen.

Wie eine Feder im Wind

Dieser empfindet seine Werke nicht als mondän oder extravagant. Er will niemandem gefallen und fühlt sich „wie eine Feder im Wind“. Für ihn ist seine Kunst nur „ein Schweben“, und doch ermöglicht sie ihm eine „gesunde Erdung“, ohne sie wäre er „ein Tölpel, ein Untertan“. Mit dieser schwebenden Haltung erlebt er in New York eine amour foux mit der Fotografin Lidy Maenz, die seine Vogel-Statuette als Agentin der Galerie Milner für diese erworben hatte, da das Werk sie besonders beeindruckte.

Spannung baut die Autorin auf, als Avis sich vor Gericht verantworten muss, weil er bei seiner Einreise in die USA die Zollgebühr nicht bezahlt haben soll. Hier stehen sich konträre Einschätzungen über das Werk gegenüber. Während es für Lidy zweifelsfrei ein Kunstwerk ist. befindet der Anwalt der Zollbehörde, der Bronzegegenstand des Vogels sei keine Kunst, sondern nur „Manufakturenware“. Es kommt zu Tumulten, woraufhin die Anwesenden den Gerichtssaal unter Protest verlassen. Ein Urteil wird nicht verkündet, das Romanende bleibt offen. Diese doppelbödige Geschichte erzählt die 1979 in Bukarest geborene, mit ihrer Familie in der Schweiz lebende Autorin fantasiereich und in bildhafter Sprache.

Zu ihrem Roman inspirierte sie der rumänisch-französische Bildhauer Constantin Brancusi. Er war durch seine modernen Bronzewerke berühmt geworden und hatte einen Prozess gegen die amerikanische Zollbehörde geführt. Grigorcea veröffentlichte mehrere Romane, darunter „Die nicht sterben“, er wurde 2022 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

LESEZEICHEN

Dana Grigorcea: „Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“; Roman; Penguin, München; 224 Seiten, 24 Euro.

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