Kultur Tanz den Psycho

Julia Headley und Joris Bergmans in Stephan Toss’ Poe-Interpretation.
Julia Headley und Joris Bergmans in Stephan Toss’ Poe-Interpretation.

Für ihre beiden Einakter mit dem Titel „Verräterisches Herz“ tauchen die beiden Choreografen Stephan Thoss und Jirí Pokorný tief ein in die Welt subjektiven Empfindens. Die Premiere des zweiteiligen Tanzabends am Mannheimer Nationaltheater fiel nur in einem Fall überzeugend aus.

Viel wissen wir nicht vom Geschehen vor einigen Tagen in einem Zug bei Flensburg. Dass aber bei der Messerattacke und dem anschließenden Schuss Angst im Spiel war und Tod die Folge ist gewiss. Das verstörende Ereignis schleicht sich in die eigene Gedankenwelt, während man Nationaltheater Mannheim dem neuen Einakter von Tanzchef Stephan Thoss folgt. Bildlich und erzählerisch hat dieser mit dem Vorfall im Norden Deutschlands nichts zu tun – inhaltlich schon. Daraus bezieht diese spannungsvolle Uraufführung ihre Bedeutung für die Gegenwart. Nebenbei wird Thoss zunehmend greifbar als ein bekennender Tanz-Erzähler, der sich dem Weltgeschehen nicht aufdrängt, aber atmosphärisch ins Schwarze trifft. Seine große Lust zu inszenieren steckt an. Man könnte auch sagen: Das Böse und das Skurrile stecken in den eigenen vier Wänden. So vertanzte Thoss für die letzte Premiere in der Spielzeit, weit in die amerikanische Literaturgeschichte zurückgreifend, Edgar Allen Poes Kurzgeschichte „Das verräterische Herz“ aus dem Jahr 1843. Es handelt sich um den Monolog eines Mörders, der von der Erinnerung an seine Tat gequält wird. Er gibt Thoss’ Kreation und zugleich dem ganzen zweiteiligen Abend den Namen. Thoss’ Darstellung von Angst und ihren Folgen, etwa dem Versuch eines Einzelnen, aus der Isolation heraus einen Alltag aufrecht zu erhalten und dabei dennoch von den immer mehr werdenden Wahrnehmungsstörungen beherrscht zu werden, spielt so indirekt ins kollektive Bewusstsein der Gegenwart. Kommt bei Poe ein alter Mann um, auf den der Mörder seinen Hass projiziert, macht Thoss die Ehefrau zum Opfer des Täters. Sie liegt gleich zu Beginn im Silberkleidchen am Boden, während sich der Täter, gelähmt vor Schreck, in seiner karierten Hose mit Hosenträgern in die Ecke seiner holzvertäfelten Wohnung drückt. Neben der Gattin schiebt sich Alexandra Chloe Samion als schwarzer Schatten und Seele des Mannes ins Geschehen. Sie wird ihn fortan durch die immer verrückter werdenden Szenen begleiten und sein Innenleben mit zum Ausdruck bringen. Weiterer Dauergast: die Raum einnehmende, an Marilyn Monroe erinnernde Nachbarin, glänzend getanzt von Emma Kate Tilson. Thoss erzählt hyperkonkret, magisch und kurzweilig zu kongenial ausgewählten Kompositionen unter anderem von Danny Elfmann, Alfred Schnittke und Nils Frahm. Oft wähnt man sich in einem Psychofilm. Köpfe erscheinen in Bilderrahmen. Kleider an Wandhaken verrücken. Gesichter erscheinen im Spiegel, ein Kuchenmesser tanzt durch die Luft und Personen im Raum verdoppeln sich. Irgendwann weiß man nicht mehr, ob es sich um reale Besucher oder Phantasmagorien des Kranken handelt. Der Tanz wird immer raumgreifender, zum Karneval der Absurditäten. Am Ende taucht eine Ballerina im Tütü mit Lampen auf dem Rock und einem Glas auf dem Kopf auf. Die Tote wird unter dem Teppich hervorgezogen, im Sessel platziert und erhält Tee aus der Kanne. Eindrucksvoll hält Joris Bergmans seine Dauerpräsenz auf der Bühne durch – als Mörder, der seine innere Realität im Außen wieder herstellt. Dazu passt auf den ersten Blick, als Ergänzung, die zweite Uraufführung des Abends: „Nous“ des tschechischen Tänzers und Choreographen Jirí Pokorny. Eine scheinbar abstrakte Arbeit zu einer Soundkomposition von Davidson Jaconello. Sie spült Regen, Sturm, Nässe, Nebel, Rauschen und Rascheln ins Ohr. Sie lässt einen zunächst entspannen, nach der narrativen Verdichtung, der man zuvor ausgesetzt war. Mehr aber dann auch nicht. Denn Pokornys Bewegungssprache entspricht in ihrer Weichheit und Flüssigkeit ohne pointierte Wendungen dem Mainstream. Ein eigenes Bewegungsprofil ist noch nicht zu erkennen. Auch ist das Verhältnis von Musik zu Tanz nicht geklärt, was zur Folge hat, dass die getanzten Episoden plötzlich sehr eindeutig und daher eher langweilig vom Leben erzählen: von Dreiecksbeziehungen, der Sehnsucht nach Liebe oder dem Alleingelassenwerden. Schwarz bekleidet auf schwarzer Bühne in meist wenigem Licht verlieren sich die Tänzer in Szenen, die jedes Geheimnis vermissen lassen. Eine Relevanz der künstlerischen Arbeit im übergeordneten Sinne sucht man vergebens. Termine Weitere Vorstellungen am 19., 22., 26. 6 sowie am 14. , 22.7.; www. nationatheater-mannheim.de

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