Literatur Ungleich verliebt: J. M. Coetzees Roman „Der Pole“

 Der Literaturpreisträger gönnt uns einen Moment des Verschnaufens: J. M. Coetzee
Der Literaturpreisträger gönnt uns einen Moment des Verschnaufens: J. M. Coetzee

Nach der doch etwas rätselbeschwerten und symbolschwangeren Jesus-Trilogie, gönnt J. M. Coetzee sich und uns mit einem schmalen Roman bzw. einer langen Erzählung einen Moment des Verschnaufens. Natürlich ist auch „Der Pole“ keine leicht verdauliche Unterhaltungsliteratur – zum Glück. Aber sehr viel konzentrierter als die letzten Bücher des Literaturnobelpreisträgers.

Der polnische Pianist Witold Walczykiewicz, bekannt für seine eigenwillig asketischen Chopin-Interpretationen, trifft auf die Mittvierzigerin Beatriz, die einem kulturell interessierten Kreis angehört, der in Barcelona Konzerte organisiert. Dort ist er zu Gast, Beatriz kümmert sich um den Musiker. Sie ist verheiratet; es handelt sich um eine routinierte, affekt-gezügelte Ehe, die Kinder sind bereits erwachsen. Sie wird als Frau mit sanfter Stimme beschrieben; das Wort Anmut fällt im Zusammenhang mit Beatriz öfter. Noch öfter wird sich Beatriz im Verlauf des Buches über das so wenig sinnliche, karge Chopin-Programm des Pianisten wundern. Sie hält ihn für einen Poseur auf der Bühne, und das notgedrungen auf Englisch geführte Gespräch beim anschließenden Abendessen verläuft eher angestrengt oder von einer undefinierbaren Spannung geprägt. „Beatriz ist nicht zufrieden. Tatsache ist, sie hat heute Abend zugehört, intensiv zugehört, und was sie gehört hat, hat ihr nicht gefallen. (…) wenn sie allein mit dem Mann wäre, würde sie ihn hartnäckiger bedrängen. Es ist nicht Chopin, der nicht zu mir spricht, Witold, sondern Ihr Chopin, der Chopin, der Sie als sein Medium benutzt – das würde sie sagen.“

Und doch! Doch ist da eine Anziehung, doch ist da eine merkwürdig erotisierende Stimmung. Beatriz erhält ein Päckchen von Witold, sie bekommt eine E-Mail, und der Pole verschleiert nicht, dass er von ihr ein Bild in sich trägt, das sie überhöht, schillernd macht, anmutig. Beatriz wird für ihn, was Beatrice für Dante war – zu einer Angebeteten. Es kommt zu einem Wiedersehen im Häuschen von Beatriz’ Mann auf Mallorca. Und fast pflicht- und geschäftsmäßig, lässt sie Witold ein paar Nächte lang zu ihrem Liebhaber werden – um ihm dann mitzuteilen, ihn nie wiedersehen zu wollen. „Ein verliebter alter Mann. Lächerlich. Und eine Gefahr für sich selbst.“

Der enttäuschende Witold

Für Witold ist Beatriz die letzte Liebe. Was er für sie ist, das wird bis zum Ende nicht klar. Sie ist sich ein Rätsel – und uns Lesern durchaus auch. Welche Kräfte zwischen den beiden wirken, bleibt vage. Sie haben sich nicht viel zu sagen, und von großer Passion kann keine Rede sein. Ist es Mitleid, das Beatriz bewegt? Oder ist da mehr? Sie ignoriert fortan seine Nachrichten, es gibt keine weitere Begegnung. Jahre später erfährt sie von seinem Tod – und von seiner Hinterlassenschaft an sie, einer Sammlung von Gedichten, die sie aus dem Polnischen übersetzen lässt. Die Texte, das erkennt sie rasch, taugen nicht viel. Beatriz seziert sie gnadenlos, und man merkt ihr die Enttäuschung an, von einem mittelmäßigen Künstler auserkoren worden zu sein – etwas Mittelmäßiges fällt da auch auf sie. Weil er keiner großen Gesten, keiner Theatralik fähig war, nicht in der Musik, nicht in der Liebe, schaut sie auf ihn herab, auch wenn sie ihn nicht vergessen kann. Es ist eine Episode in ihrem Leben, ein letzter Gefühlsausbruch in seinem – es dürfte dieses Ungleichgewicht gewesen sein, das Coetzee interessiert hat. Diese wohltemperierte Amour fou hat etwas Verzweifeltes, Wehmütiges, Verlorenes. Allerdings färbt diese Lauheit ein wenig auf den Text ab.

Bei aller sprachlichen Souveränität – die Figuren bleiben auf gewisse Weise fremd und unbelebt, die tieferen Antriebe lassen sich im Text nicht erspüren. Weil Beatriz nicht den Zauber Beatrices hat, Witold nicht das Feuer Dantes, ist diese Künstlernovelle über die Begabung zur Leidenschaft selbst ein wenig leidenschaftslos geraten.

Lesezeichen

J. M. Coetzee: „Der Pole“; Roman; aus dem Englischen von Reinhild Böhnke; S. Fischer; Frankfurt am Main; 144 Seiten. 20 Euro.

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