Kultur Untergang auf dem Lametta-Karussell

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So viele leere Plätze sah man selten bei einer Musiktheater-Premiere des Pfalztheaters Kaiserslautern: Die Premiere von Igor Strawinskys Oper „The Rake`s Progress“ war bestenfalls zu zwei Dritteln besetzt. Dabei muss niemand Angst haben vor diesem 1951 uraufgeführten Beispiel für modernen Stilpluralismus und Neoklassizismus. Selbst schuld, wer die von Generalmusikdirektor Uwe Sandner dirigierte Inszenierung von Tilman Gersch verpasste!

Strawinsky gehört bestimmt zu den schillerndsten, ebenso eigenwilligen wie eigensinnigen Vertretern der Musik des 20. Jahrhunderts. Man kann ihn im Grunde keiner Stilrichtung eindeutig zuordnen, weil sein Werk im Expressionismus beginnt, dann zum Neoklassizismus findet und am Ende das Komponieren in Reihen im Sinne von Schönberg und Berg entdeckt. Manchen Zeitgenossen war das suspekt, man vermisste die künstlerische Überzeugung, unterstellte Opportunismus. Adorno schmähte, im zeitlichen Rückblick: „Musik über Musik“. Musik als Konstruktion trifft es dabei viel besser. Musik als in Zeit und Raum sich ausdehnende Schallwellen, die einem strengen Formprinzip folgen. Musik als Kopfgeburt. Dies gilt natürlich nicht für Strawinskys expressive Werke wie „Le Sacre du printemps“, sehr wohl aber für die so künstlerisch und aufwendig aus Stilzitaten zusammengebaute Oper „The Rake’s Progress“. Es ist irgendwie vieles, wenn auch nicht alles da. Wagner zum Beispiel war so gar nicht Strawinskys Sache. Dafür erinnert die Eröffnungsfanfare der Oper an den Beginn von Monteverdis „L’Orfeo“. Und dann meint man überall den Hut ziehen zu müssen: vor Purcell, Händel, vor Mozart, vor Verdi sogar. Aber man grüßt doch immer nur einen: Igor Strawinsky. Man kann dies alles heraushören, weil Strawinsky für ein Orchester von der Größe von Mozarts „Così fan tutte“ eine Partitur geschrieben hat, in der keine Note untergeht. Bei der aber eben auch kein Fehler verziehen wird. Generalmusikdirektor Uwe Sandner blättert mit dem Pfalztheaterorchester quasi durch ein Musikgeschichtsbuch, schlägt Kapitel für Kapitel auf und passt sich den unterschiedlichsten zitierten Stilen an. Aber er verliert dabei nie das Wesentliche aus den Augen: den Gesamtzusammenhang und damit auch den originalen Strawinsky-Klang, indem er gerade die ebenso originellen wie entscheidenden Abweichungen von der Vorlage herausstreicht. Spätestens beim zweiten Hinhören wird dann klar: Es ist eben doch Moderne. Natürlich kann man diese Art zu komponieren auch manieristisch nennen. Sie ist Kunst über Kunst. Regisseur Tilman Gersch und sein Ausstattungsteam mit Thomas Dörfler (Bühne) und Miriam Grimm (Kostüme) versuchen denn auch gar nicht erst, diese Musik und die damit einhergehende, bisweilen fast schon absurde Handlung in ein realistisches Konzept zu zwingen. So viel Lametta war jedenfalls selten. Die Silberstreifen im XXL-Format ersetzen nicht nur den Vorhang, Bühnenbildner Dörfler hat zudem auch eine Art Lametta-Karussell gebaut, dass die langen Fäden immer wieder über die Köpfe der Akteure streifen lässt. Ansonsten wird die Bühne dominiert von einem roten Backsteinhaus, das man aus englischen Vorstädten kennt: Es ist das Zuhause Annes ebenso wie Toms Londoner Wohnung, kann sich aber auch mal in einen Puff verwandeln. Und wenn die Szene dann auf einem Friedhof spielt, fährt von oben ein Kreuz herunter. Gersch macht aus Strawinskys Oper Jahrmarkts-Theater. Pralle Sinnlichkeit. Pure Fantasie, vor allem in den Kostümen: Da rennen Schlümpfe auf der Bühne herum, Anne sieht aus wie Alice im Wunderland, Sellem, der Auktionator (Daniel Kim), erinnert an Sherlock Holmes, auch der Bösewicht Davy Jones aus „Fluch der Karibik“ hat seine Auftritte. Das ist eine bilder-wuchtige Show, in der die Moral der Geschichte keine große Rolle mehr spielt. Gersch glaubt nicht an eine solche. Stattdessen bildet er zwei Zwillings-Paare: Tom Rakewell ist die eine Seite der Medaille, deren andere der Teufel, also Nick Shadow, ist. Entsprechend bekommt auch Anne Trulove ihre Spiegelbildfigur in Form einer stummen, mit einer Art Fastnachts-Schwellkopp ausgestatteten Statistin, die sie auf Schritt und Tritt begleitet. Doch es gibt Momente, da überlistet die Musik ihren Komponisten, der Gefühle und Überwältigung nie zulassen wollte. Das „Kraftwerk der Gefühle“ war ihm ja suspekt. Und dennoch berührt uns Toms traurige Hymne auf die Liebe im ersten Akt etwa, oder auch Annes Schlaflied für ihren vom Wahnsinn geschlagenen Geliebten im Schlussbild. Das ist dann nicht mehr Oper über die Oper, nicht mehr kopfgesteuert, sondern schießt direkt in unser Herz. Und die Regie verhält sich merkwürdig kühl dazu. Strawinskys mitunter auch schon einmal leicht spröde, weil allzu bekannt wirkende Musik liegt bei dem Chor (Einstudierung: Johannes Köhler) wie den Solisten in guten Händen: Heiko Börner als Tom startet vielleicht etwas verhalten in den Abend, ist aber bis zum Ende stimmlich präsent. Joanna Moskowicz als Anne umschifft jede Klippe ihrer mit so unterschiedlichen Anforderungen aufwartenden Partie mühelos. Wieland Satter ist ein sängerisch wie darstellerisch idealer Nick Shadow, und auch Polina Artsis als Mother Goose und Baba the Turk sowie Bartolomeo Stasch als Annes Vater Trulove finden den typischen Strawinsky-Ton, der den Sängern viel abverlangt, aber so selten die Chance zum Glänzen lässt. Termine 28. März; 3., 15., 22., 27. April; 17. Mai; 22. Juni im Pfalztheater Kaiserslautern, am 6. und 8. April in Ludwigshafen.

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