Kultur Vom Versprechen der Freiheit

Mit den Folgen der 68er-Bewegung – hier eine Demonstration im April 1968 in Bonn nach dem Attentat auf den Studentenführer Rudi
Mit den Folgen der 68er-Bewegung – hier eine Demonstration im April 1968 in Bonn nach dem Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke – beschäftigt sich die aktuelle Ausgabe der Schrift »Latenz«.

Im Herbst 2016, zur Frankfurter Buchmesse, erschien der erste Band der Zeitschrift „Latenz“. Nun liegt der dritte vor, und es sieht so aus, als würde „Latenz“ im Verein der politisch-philosophischen Zeitschriften einen dauerhaften Platz einnehmen. Auch lässt sich eine gewisse Kontinuität, was Autoren und Themen betrifft, feststellen. Die Herausgeber, Irene Scherer und Welf Schröter vom Talheimer Verlag, in dem viele Jahre der vom Ludwigshafener Bloch-Archiv herausgegebene „Bloch-Almanach“ erschien , verhehlen auch nicht die Nähe zur Philosophie Ernst Blochs.

Die ersten beiden Bände waren der weiter anhaltenden Krise der Demokratie gewidmet. „Latenz 01“ stellte die Aufsatzsammlung unter die Leitfrage „Wer ist das Volk?“, „Latenz 02“ führte unter dem Titel „Politik und Emotionen“ die Erforschung von Erscheinungsweisen und Ursachen des Populismus fort. „Latenz 03“ nun widmet sich unter der Überschrift „Das Versprechen der Freiheit“ der 68er-Bewegung. Dabei könnten einige ältere Autoren wie Micha Brumlik, Frankfurter Pädagogikprofessor im Ruhestand, oder Gérard Raulet, früher Philosophieprofessor an der Pariser Sorbonne, auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Nicht alle jedoch tun dies so wie der Bloch-Biograf und emeritierte Professor für deutsche Philosophiegeschichte an der Universität Amiens, Arno Münster. Er sieht die 68er aufgegangen in einer „individualistischen Massenkonsumgesellschaft“, den „langen Marsch durch die Institutionen“, wie ihn Rudi Dutschke propagierte, zerstoben wie die kollektivistischen Illusionen. Der frühere Präsident des Landgerichts Lübeck und wissenschaftliche Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht, Hans-Ernst Böttcher, erinnert sich an seine damalige Teilnahme an kritischen Arbeitskreisen, die auf eine Reform der Juristenausbildung und Aufarbeitung der noch nicht lange zurückliegenden NS-Justiz drangen. Heute hielte er eine eingehende Untersuchung darüber für interessant, wie diejenigen 68er, die – wie er selbst – Leitungsfunktionen in der Justiz eingenommen haben und in die obersten Gerichte berufen worden sind, sich über die Jahre verhalten und gehalten haben. Die Frage, ob die 68er der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik eher förderlich waren oder ob sie durch die Reaktion der Staatsmacht auf die Radikalisierung im Terror der „Roten Armee Fraktion“ einer freiheitlichen Entwicklung eher abträglich gewesen sind, hätte einen eigenen Beitrag verdient gehabt. Die meisten Autoren scheinen aber der Auffassung zuzuneigen, dass die 68er der Gesellschaft einen emanzipatorischen Schub gegeben haben. Am Beispiel der Emanzipation der Frau und der Aufhebung der Geschlechterdiskriminierung untermauert einen solchen Befund die Klagenfurter Philosophieprofessorin Alice Pechriggl. Grundsätzlich, wie der allgemein gehaltene Titel „Das Versprechen der Freiheit“ andeutet, stellt die Zeitschrift die 68er in eine Reihe mit anderen Befreiungsbewegungen. Ebenso grundsätzlich, doch skeptisch, was die Auswirkungen von Revolutionen in der Geschichte überhaupt betrifft, äußert sich Micha Brumlik, ohne ausdrücklich auf die 68er einzugehen. Seine resignative Haltung mündet in die dritte Feuerbach-These von Karl Marx, die die Forderung aufstellt, die Erzieher müssten selbst erst noch erzogen werden. Eine nüchterne, aber sehr detaillierte und lesenswerte Bestandsaufnahme der Rezeption der sogenannten Frankfurter Schule, also der Schriften Horkheimers, Adornos und Habermas’, in Frankreich legt Gérard Raulet vor. Einer gewissen Selbstgerechtigkeit zeiht die 68er Luca di Blasi. Während sich nämlich das Free Speech Movement in den USA gegen den Vietnamkrieg als Schuld und Schande der gesamten Nation gerichtet habe, so der Berner Philosophiedozent, hätten die 68er in Deutschland der Vätergeneration deren Nazi-Vergangenheit vorgeworfen, sich selbst jedoch von aller Schuld freigesprochen. Eine Verbindung zu den ersten beiden Bänden stellt Mathias Richter her, Feuilletonchef der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ in Potsdam und in allen drei Bänden präsent. In „Latenz 01“ hatte er den unterschiedlichen Inhalt herausgearbeitet, den Populisten und die Verfassungen moderner Staaten mit dem Begriff des Volkes verbinden. Jetzt stellt er den Absichten der rechtsgerichteten Volksbewegungen in Europa die 68er Bewegung gegenüber und kommt zu der Einschätzung: „Zweifellos hat diese politische Generation in den westeuropäischen Ländern eine kulturelle Klimaveränderung bewirkt, die zu einer gesellschaftsübergreifenden Liberalisierung der Lebensformen geführt hat.“ Dieser Meinung werden kaum alle zustimmen. Ein weiterer Beitrag ist wieder der Philosophie Ernst Blochs gewidmet. Matthias Mayer, seit über einem Jahr Leiter des Bloch-Archivs im Ludwigshafener Ernst-Bloch-Zentrum, beschäftigt sich in „Religionsphilosophie und Psychoanalyse“ mit einem Streit zwischen Max Horkheimer und Bloch. Während Horkheimer in den bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit schon den Faschismus angelegt sah, erkannte Bloch den blutigen Umstürzen ein „Gewaltrecht des Guten“ zu, wie er es grundsätzlich für die historische Entwicklung in Anspruch nahm. Seiner sehr ausführlichen Darlegung hat Mayer aus dem Archiv einen Brief und ein erstmals veröffentlichtes Foto von der Begegnung Blochs mit dem katholischen Theologen Johann Baptist Metz beigegeben. Keinen direkten Bezug zu den 68ern hat ein Aufsatz von Claus Leggewie. Dafür kritisiert der Gießener Politikwissenschaftler heftig die gegenwärtige „unverantwortliche Politik“ Donald Trumps und mahnt zu einem umweltbewussten und ressourcenschonenden Verhalten. „Die Freiheit der Heutigen endet dort, wo die Freiheit der Künftigen anfängt“, variiert er eine Maxime über die Grenzen der Freiheit. Lesezeichen „Latenz 03. Journal für Philosophie und Gesellschaft, Arbeit und Technik, Kunst und Kultur: Das Versprechen der Freiheit. Der Aufbruch von 1968 und das Ringen um seine Erbschaften“; herausgegeben von Irene Scherer und Welf Schröter; Talheimer Verlag Mössingen-Talheim; 272 Seiten; 34 Euro.

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