Buchmarkt und US-Wahlkampf Zensur? Ach, was! Ullstein nimmt Trumps Vizepräsidentschaftskandidat Vance aus dem Programm

Früher harscher Kritiker, jetzt Trumps Lautsprecher: J. D. Vance.
Früher harscher Kritiker, jetzt Trumps Lautsprecher: J. D. Vance.

Der Ullstein-Verlag möchte nicht mehr mit J.D. Vance zusammenarbeiten und verlängert die Lizenz für die deutsche Ausgabe von dessen Buch „Hillbilly-Elegie“ nicht:. Der Aufschrei ist groß. Aber warum nur?

Micky Beisenherz, unter anderem Texter der RTL-Demütigungsshow „Das Dschungelcamp“, schreibt auf Instagram vom hohen Ross: „Das ist so bräsig tugendbesoffen, dass es natürlich herrlich zeitgeistig ist. Könnt ja was Spannendes drinstehen.“ Auch das sonstige deutschsprachige Feuilleton kübelt sich gerade aus.

Der Ullstein-Verlag hat die Lizenz eines Buches nicht verlängert, das gegenwärtig als Bestseller wohl ein Selbstläufer wäre. Und das, so Mara Delius sinngemäß in der „Welt“, wo es dem Verlagswesen doch so schlecht gehe. Und aus hehren moralischen Gründen, die offenbar inzwischen als naiv gelesen werden. Besserwissende wie Beisenherz und Delius nennen die Entscheidung jedenfalls symbolpolitisch, woke, „bräsig tugendbesoffen“ eben, anpasserisch an die engen Meinungskorridore, deren Vorherrschen ja auch die AfD gerne beklagt. Im Übrigen dürfte J. D. Vance, der Autor der „Hillibilly-Elegie“, das Buch, um das es geht, die Rechtsaußenpartei möglicherweise gerade noch so akzeptabel finden, das heißt, gerade noch so: nicht radikal links. Ohnehin meint Trumps potenzieller Vizepräsident, sei das „dumme“ Deutschland im selbstverschuldeten Prozess einer umfassenden De-Industrialisierung begriffen. So gut wie lost. Vance hat eine erstaunliche Wandlung durchgemacht.

Die Tränen von ScholzSeine Autofiktion – die Trennung von Werk und Autor funktioniert hier also nicht so recht – schildert das Aufwachsen im White-Trash-Prekariat, als Kind einer alleinerziehenden, drogenabhängigen Mutter. Die „Hillibilly-Elegie“ spielt im sogenannten Rust Belt, in einer Welt der vom endgültigen Abstieg ins soziale Nichts bedrohten Familien. Als es 2017 bei Ullstein, übersetzt von dem Schriftsteller Gregor Hens, erschien und sich gut verkaufte, rührte es den jetzigen Bundeskanzler, wie er der „Süddeutschen Zeitung“ gestand, „zu Tränen“. Es habe ihm geholfen, „mein eigenes Verständnis für das zu schärfen, was für eine moderne, fortschrittliche, ich würde sagen: sozialdemokratische Politik im 21. Jahrhundert wichtig ist“, sagte Scholz.

Das Buch von Vance galt einmal als Erklär-Blaupause für den Wahlerfolg von Donald Trump 2020. Ein Schlüsseltext über die Abgehängten. Der Autor selbst sagte in einem Interview: „Ich kann Trump nicht ausstehen. Ich denke, dass er schädlich ist und die weiße Arbeiterklasse an einen sehr dunklen Ort führt.“ In einer privaten Nachricht heißt es: „Ich schwanke zwischen der Ansicht, dass Trump ein zynisches Arschloch wie Nixon ist, das nicht so schlimm wäre (und vielleicht sogar nützlich), oder dass er Amerikas Hitler ist.“

Wie Kim Jong-unInzwischen ist der frühere Marine, Yale-Absolvent, Investmentbanker und von dem Autokratie-affinen Tech-Milliardär Peter Thiel zum Katholizismus bekehrte Vance ein ultra-konservativer Propagandist. Trumps Lautsprecher. Ein militanter Abtreibungsgegner, der unter anderem kinderlose Frauen wie die mutmaßliche US-Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, Kamala Harris, die zwei Stieftöchter hat, als schlecht gelaunte „Cat Ladies“ (Katzenfrauen) verunglimpft, die eine schlechte Entscheidung getroffen hätten und die dem Rest des Landes auch schlechte Laune machen wollten. Und klar: Die Reproduktionsmedizin, die ungewollt kinderlos Gebliebenen helfen könnte, lehnt er auch ab.

Über die Gründe seines Sinneswandels indes kann nur spekuliert werden. Wahrscheinlich, dass Vance seine Aufsteigergeschichte einfach nur zu Ende schreiben möchte. Letztlich, so die Vermutung, als kommender Präsident.

Trump selbst jedenfalls verglich die Wandlung, die sein neuer Adlatus durchgemacht hat, mit der von Nordkoreas Machthaber Kim Jong-Un ihm gegenüber. Plötzlich, meinte der Ex-Präsident, sei Vance, als der für den Senat kandidierte, „in love“ mit ihm – und er würde ihm, sorry, „den Arsch küssen“, dass er ihn bei seinem Bestreben unterstütze. Echte Männerfreunde halt.

Der Ullstein Verlag derweil begründete seine Entscheidung gegenüber dem „Spiegel“ damit, dass das Buch von Vance zum Zeitpunkt seines Erscheinens, „einen wertvollen Beitrag zum Verständnis des Auseinanderdriftens der US-Gesellschaft“ geliefert habe. Heute aber vertrete der Ex-Gegner von Trump „offiziell an dessen Seite“ eine „aggressiv-demagogische, ausgrenzende Politik“. Daher habe sich der Verlag entschieden, den Vertrag mit dem Autor nicht zu erneuern. Opportunistisch lässt sich diese Entscheidung bestimmt nicht nennen. Dafür: konsequent.

Freiheit muss seinVielleicht darf man auch daran erinnern, dass die Familie Ullstein ihren Verlag 1934 NS-verfolgungsbedingt verkaufen musste. So viel unternehmerische Freiheit jedenfalls, einen Autor im Nachhinein nicht mehr kompatibel mit dem Programm zu finden, darf schon sein. Zumal Micky Beisenherz bald ohne Weiteres erfahren kann, ob in der „Hillibilly-Elegie“ etwas Spannendes drinsteht. Denn inzwischen hat Yes Publishing die Rechte gekauft. Ein 2019 gegründeter Verlag, dessen Bücher von der Münchner Verlagsgruppe vertrieben werden. Mitte August, heißt es jetzt, werde die „Hillibilly-Elegie“ wieder auf Deutsch erscheinen. Man geht fest von einem Bestseller aus.

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