LEO-BUCHTIPP Aus den Archiven der Moderne (1): „Barockkonzert“ von Carpentier

Schauplatz von Alejo Carpentiers „Barockkonzert“: Venedig.
Schauplatz von Alejo Carpentiers »Barockkonzert«: Venedig.

Ein reicher Mexikaner reist in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach Europa. Bei einem Zwischenstopp auf Kuba erliegt sein sangeskundiger Knecht einer in Havanna grassierenden Seuche. Also engagiert der in Silber prunkende Amerikaner den ebenso fabuliersüchtigen wie erzmusikalischen schwarzen Stallburschen Filomeno als neuen Diener. Zusammen kommt man in Spanien an. Doch das vielgepriesene Madrid erscheint dem Mexikaner im Vergleich zu den Städten seiner Heimat allzu schäbig. Und so reist man, nachdem man die Freuden eines Bordells intensiv genossen hat, über Valencia und Barcelona flugs nach Italien weiter, allwo man sich in das frivole Treiben des venezianischen Karnevals stürzt: der Herr als letzter Aztekenherrscher Montezuma verkleidet, der farbige Diener erscheint auch ohne Larve exotisch genug.

Geburtsstunde einer Oper

In einem Kaffeehaus treffen die beiden auf den schon angeschickerten Antonio Vivaldi. Georg Friedrich Händel und Domenico Scarlatti gesellen sich alsbald hinzu. Es wird ordentlich gebechert, trunken zieht man weiter ins Ospedale della Pietà, wo die drei Komponisten und die beiden Touristen aus der Neuen Welt zusammen mit Vivaldis Waisenmädchen-Orchester eine regelrechte „Jam Session“ veranstalten. Aus der Begegnung mit dem Mexikaner wird Vivaldi außerdem zu einer Oper inspiriert, die das tragische Ende Montezumas behandeln soll.

Barocke Wortmusik

Ergo erzählt der kurze Roman des kubanischen Schriftstellers Alejo Carpentier (1904-1980) auf höchst amüsante Weise, wie ein historischer Stoff aus der Neuen Welt Eingang in den Kosmos der Barockoper finden konnte. Denn tatsächlich brachte Vivaldi 1733 in Venedig einen „Motezuma“ zur Aufführung. Doch ein „Barockkonzert“ ist die Novelle des Kubaners nicht nur in musikhistorischer Hinsicht, sondern auch auf sprachlicher Ebene. So üppig wuchern hier die Bilder, so überbordend mäandert hier die Syntax, dass der Text selbst zur barock anmutenden Wortmusik wird. Noch zwei weitere Aspekte steigern den Lesegenuss: Höchst originell wirkt Carpentiers vertauschte Perspektive, die die Alte Welt aus der Sicht der Neuen betrachtet. Außerdem spielt der Autor virtuos und gelehrt auf der postmodernistischen Klaviatur, indem er mit gewitzten Anachronismen jongliert: So tauchen in Carpentiers Barock-Venedig auch Igor Strawinsky und Richard Wagner am Rande auf ...

Lesezeichen

Alejo Carpentier: »Barockkonzert«. Suhrkamp, 1976, 112 S., einzeln derzeit nur antiquarisch; Gesamtausgabe der Romane: Suhrkamp 2011, Reihe Quarto, 1735 S., 35 Euro
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