Donnersbergkreis Am Ende schwingt Melancholie mit

In Riga zur Welt gekommen, aber auch am Donnersberg daheim: der Physiker Wolfgang Retting.
In Riga zur Welt gekommen, aber auch am Donnersberg daheim: der Physiker Wolfgang Retting.

«Kirchheimbolanden.» Was bleibt von einem Leben? Manchmal, und das längst nicht mehr nur bei herausragenden Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, dessen in Buchform gegossene Essenz. Die meisten Menschen, die das Bedürfnis haben, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, tun dies zum familiären Gebrauch. Andere zielen auf einen größeren Leserkreis. Der Frankfurter „August von Goethe Literaturverlag“ hat daraus ein Geschäftsmodell gemacht. Er ermuntert (O-Ton) „das gebildete Publikum“ zum Einsenden solcher Manuskripte.

Dem ist auch der Physiker Wolfgang Retting gefolgt: Unter dem Titel „Lebendige Vergangenheit“ breitet er in einem sehr persönlichen Rückblick und mit Fotos reich illustriert neun Lebensjahrzehnte aus – weniger mit literarischem Anspruch denn mit der Sachlichkeit des Chronisten, gut lesbar und ohne Effekthascherei. Die Zeit, von der er erzählt, war ja selbst dramatisch genug. Zur Welt gekommen in einem bürgerlichen Elternhaus in Riga, aufgewachsen in Reval, dem heutigen Tallinn, wurde die baltendeutsche Familie nach Beginn des Zweiten Weltkriegs in die Provinz Posen umgesiedelt. Der Nazi-Ideologie folgte der Napola-Zögling dort willig, fieberte als 17-jähriger Abiturient dem Soldatsein entgegen. Seine Fronterlebnisse als 18-Jähriger in den letzten Kriegswochen wird der Offiziersanwärter später allerdings als „traumatisierend“ beschreiben. Dazu dürften auch die Irrwege zählen, bis er im Juni 1945 bei Hildesheim wieder auf die dorthin geflohene Mutter und den Bruder traf, während – durch Adenauers Vorstoß – die Heimkehr des Vaters aus russischer Kriegsgefangenschaft erst 1954 möglich wurde; Zwangsarbeit im arktischen Workuta hatte ihn gebrochen. Lebensfügungen und Lehren, die Wolfgang Retting und seine Frau Heede später aus tiefster Überzeugung zur Friedensbewegung führten, zu „Versöhnern“ mit dem Osten werden ließen. Eher sparsam flicht Retting allerdings diesbezügliche Episoden, Begegnungen, Reisen, soziale Aktionen ein. Unerwähnt, um nur ein Beispiel zu nennen, bleibt etwa, dass dem Ehepaar in seiner zeitweiligen Wahlheimat Kirchheimbolanden die Begegnung mit Felicia Langer zu verdanken ist: Die befreundete jüdische Anwältin stritt in Israel für die Rechte von Palästinensern und wurde dafür mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt; in Kirchheimbolanden kam seinerzeit noch der örtliche Friedenstagepreis dazu. Ungleich stärker richtet Retting den Fokus auf Privates, doch auch dabei Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder so spiegelnd, dass viele seiner Generation sich darin erblicken könnten: Studium der Physik in Göttingen unter äußerst kärglichen Bedingungen, Begegnung mit Heede in der Tanzstunde, Familien-Gründung, zielstrebige Promotion in Bonn. 1961 Aufbruch mit den zwei kleinen Kindern im vollgestopften Kleinwagen zum ersten, bescheidenen Familienurlaub in Bella Italia. Immer wieder, in kurzen Abständen, mussten Umzüge quer durch Deutschland bewältigt werden – der Arbeit nach: Der Physiker (und Fachbuchautor) mit Spezialgebiet Kristallographie ist ein gefragter Experte. Jahrzehnte war er in der BASF tätig, lebte mit seiner Familie ab 1961 in Frankenthal und Eisenberg-Steinborn, als Pensionär unter anderem in Kirchheimbolanden und zuletzt wieder in Eisenberg. Dort, in einem Seniorenheim, verbrachten Wolfgang Retting und seine 2017 nach 66 Ehejahren verstorbene Frau ihre letzten gemeinsamen Jahre nach einem von Menschenfreundlichkeit und Optimismus getragenen Leben, das Schicksalsschläge nicht aussparte: Sohn Cornelius kam beim Tsunami 2004 in Thailand ums Leben. Am Ende schwingt die Melancholie der Einsamkeit mit, aber auch nüchterne Klarsichtigkeit über den nahenden Tod. Was bleibt? (Auch) dieses Buch der Erinnerungen, das der heute 92-Jährige seiner „lieben Heede“ gewidmet hat. Lesezeichen Dr. Wolfgang Retting: „Lebendige Vergangenheit“. August von Goethe Literaturverlag 2018, 128 Seiten, 12,80 Euro.

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