Donnersbergkreis Die moderne Hildegard von Bingen

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WEIERHOF. Ein berührendes Klangerlebnis führte Ute Kreidler mit Liedern der Hildegard von Bingen im Blauen Haus auf dem Weierhof auf. Mit ihrer ausdruckstarken und variationsreichen Stimme sang sie zu Harfe, Flöte, tiefer Holzorgelpfeife und Klangschale. Oft tritt sie in Kirchen auf. Hier verwandelte der Tonmeister Reinhard Geller mit einer Live-Looping-Installation klanglich das Blaue Haus in eine Kathedrale.

Ganz alleine und doch viel mehr: Mit den Loops – zu Deutsch: Schleifen – erzeugt Ute Kreidler bei ihrer Solo-Performance auf elektronischem Wege Mehrstimmigkeit oder legt Melodien, Stimmen, Instrumente und Rhythmen übereinander. Das Ganze geschieht vor beeindruckender Kulisse: Die Lichtinstallation „Morpheus“ auf der Bühne – ein Mobile aus dreieckigen kleinen Spiegeln – sendet Lichtreflexionen in den Raum. Es scheint, als blitzten eindringende Sonnenstrahlen oder Hildegards Visionen auf. Mit zarter Stimme beginnt Kreidler ein Kyrie und schwingt zu sanft gesungenen Höhen auf. Sofort denkt der Zuhörer an die Ruhe und Kraft der mittelalterlichen Gesänge und hat den Eindruck, in einer großen Kirche zu sitzen. Mehr als 800 Jahre alt sind die Lieder Hildegard von Bingens. Kreidler erklärt, warum wir sie heute noch hören können: Weil sie sich vor Kirchenoberen rechtfertigen musste, sind nicht nur Noten und Texte ihrer Musik überliefert. Man erfährt zudem aus vielen ihrer Briefe, wie sie sich die Aufführung vorstellte und was sie über ihre Musik dachte. Kreidler greift diese Noten und Anregungen auf und gestaltet sie hochmodern. Sie sehe sich dabei in Hildegards Tradition, die im zwölften Jahrhundert in einer Zeit der Umbrüche lebte und so manches Mal ihrer Zeit voraus war. „Caritas“ (die Liebe überflutet alles) beginnt Kreidler mit Melodiebögen der kleinen Harfe, im Looper ins Echo gesetzt. Dann schwingt sich ihre Stimme zu höchsten Tönen auf. Verschiedene Melodiebögen gibt sie ein, bedient mit dem Fuß Knöpfe des Loopers am Boden und erzeugt so Mehrstimmigkeit. Die Musik strahlt Ruhe und Innerlichkeit aus, lebhaft spielt Kreidler das Harfensolo im Mittelteil. „Ich stelle mir vor, wie Hildegard dazu tanzt“, hatte sie angekündigt. „Meine beiden Harfen sind Nachbauten aus Abbildungen auf mittelalterlichen Gemälden, so auch die größere mit dem Löwenkopf“, erläutert sie. In „Suscitans“ (Erweckung), einem Titel passend zur Osternacht, setzt die Musikerin diese Harfe und eine Flöte im Wechselspiel ein. Bewusst habe sie diese Instrumentierung gewählt, gemäß der Erläuterungen Hildegards von Bingen, das Material habe Einfluss auf den Menschen: Die Flöte verbinde die Welten, die Harfe richte den Geist aus. Tatsächlich wirkt die Musik so: Sie beruhigt, ermöglicht das Eintauchen in mystische Tiefen und weckt zugleich auf – wie eine Meditation. Mit „Oh Lebenskraft“ zeigt Kreidler passend zum Thema Vielfalt im Ausdruck. Schwungvoll spielt sie die Harfe, ihre Stimme erklingt zwischen warmem Alt und einem klaren, hellen Gloria im Sopran. Man taucht ein in die mystische Wirkung dieser Musik und mag aus ihr heraus gar nicht klatschen. Aber das Publikum spendet doch gerne und reichlich Beifall. „Hildegard sah den Menschen in seiner Sehnsucht nach dem rechten Maß zwischen Harmonie und inneren Spannungen“, moderiert Kreidler. „Oh ihr siegreichen Überwinder“ erzähle von diesem Streben. Lautmalerisch gibt sie ihr Vogelgezwitscher in den Looper, im Kontrast dazu einen sehr tiefen Grundton, den sie auf einer Orgelpfeife bläst. Flöte, Harfe und Gesang legen sich in lebhaften Melodiebögen darüber, schneller werdend, dann in die Ruhe abebbend. „Die ganze Welt ist erfüllt von Klang, und jedes Geschöpf hat seinen Ton“, dieser Satz auf dem Plakat, das ihr Konzert ankündigte, passt besonders gut zu diesem Lied. Man muss wohl selbst Ruhe und Tiefe in sich tragen und spüren, wo die Stimme im Körper entsteht, um die der Musik innewohnende Kraft so beeindruckend und ansteckend ins Publikum tragen zu können. Hymnisch interpretiert die Sängerin „Oh Kraft der Weisheit“. „Oh Zweig und Diadem des purpurfarbenen Königs“ ist ein Zitat, eine Erkenntnis aus Hildegards Visionen, die sie als Lichterscheinungen sah. Wie den Klang einer großen tieftönenden Glocke nimmt man die Klangschale wahr, die Kreidler anschlägt. Ihr Gesang wirkt, als stelle sie ein Klangbild aus vielfältigen Farb-Tönen in den Raum. Es scheint, als höre man die Farben des Alls, am Ende zu einem Ton vereint. „Ich glaube, Hildegard von Bingen freut sich sehr darüber, wie ihre Musik hier erklingt und dass ihre Lieder nach so vielen Jahrhunderten noch so begeistern“, sagt Kreidler vor der Zugabe. „So aufgeschlossen wie sie war, wäre sie wohl einverstanden mit meinen kunstvollen Klangvisionen“, spielt sie auf die moderne Klangtechnik an. Die zahlreichen Zuhörer erlebten eine inspirierende Einstimmung auf Ostern und konnten spüren, was die Komponistin mit der heilenden Wirkung ihrer Musik meinte.

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