Donnersbergkreis Von der Ordnung, die nicht in Ordnung ist

Jörn Wilhelm wurde 1944 in Waren an der Müritz geboren und ist in Hamburg aufgewachsen. Er war unter anderem 17 Jahre lang Pfarr
Jörn Wilhelm wurde 1944 in Waren an der Müritz geboren und ist in Hamburg aufgewachsen. Er war unter anderem 17 Jahre lang Pfarrer in Göllheim sowie später in Imsbach.

«STEINBACH.» „Mit ausgebreiteten Flügeln“ fliegt Jörn Wilhelm im zweiten Teil seiner Lebenserinnerungen durch seine Studienjahre. Wilde Jahre, geprägt von den Studentenunruhen der späten 60er, denen Wilhelm, später lange Jahre Pfarrer in der Nordpfalz und heute in Steinbach zu Hause, auch seine politische Prägung verdankt. „Schließlich hatte ich ja immer schon zur Opposition gehört“, heißt es mehr als einmal in diesem fesselnden Lebensbericht eines Querdenkers, der eine markante Epoche der Nachkriegszeit farbig dokumentiert.

Gut ein Drittel umfangreicher als der erste Band zur Kindheit und Jugend, umfasst dieser zweite nur die acht Jahre vom Beginn des Theologiestudiums in Erlangen bis zur Übernahme der ersten Pfarrstelle in Göllheim 1972. Ein Fingerzeig, dass es hier um eine bedeutsame, gehaltvolle Wegstrecke geht. Die Bedeutung von Zeitzeugenschaft ist dabei neben der Lebensbilanz eine treibende Kraft beim Schreiben dieser Autobiografie: „Wichtig war mir bei der Schilderung das zeitgeschichtlich Typische, wie es nur zu diesem und keinem anderen Zeitpunkt geschehen konnte. ... Es ist schade, wenn tatsächlich erlebte Episoden dieser Art verloren gehen.“ Viel Zeitkolorit kommt zur Sprache – Studentenleben in den 60ern, Jazzkneipen, die Stube mit dem häufig zusammenbrechenden Bettgestell, das Verbot von Frauenbesuchen, Isetta und DKW, Zigaretten und Alkoholexzesse, Studentenjobs, darunter der erste kurioserweise beim Axel Springer Verlag, gegen den Wilhelm später mit vielen Mitstudenten auf die Straße gehen wird. Denn hohen Stellenwert hat auf diesen Seiten das politische Klima der Zeit, gegen das eine kritische Jugend aufbegehrt, gegen die überall fühlbaren Nachwehen der NS-Zeit, die sich in Haltungen, Stimmungen und in vielen handelnden Personen in der jungen Bundesrepublik bis in die Hörsäle hinein erhalten hat. Für den neuen Staat sei kennzeichnend gewesen, „dass es keine distanzierende Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit gegeben hatte und es eine personelle Kontinuität an allen Schaltstellen der Gesellschaft gab“, bilanziert Wilhelm. Der seelische Ballast, der aus der Diktatur in die Demokratie mit hineingetragen wurde, ist eine schwere, unerledigte Bürde der jungen BRD. Viel ist natürlich von Theologie die Rede. Die Selbstvergewisserung des jungen Studenten, der sich Bloch und Bonhoeffer als Leitsterne erwählt, ist das eine. Es geht aber auch darum, die Verstrickungen der Kirche in die NS-Zeit und ihre späteren Rechtfertigungsversuche in ein kritisches Licht zu stellen. Dazu berichtet Wilhelm nicht nur das Erlebte, sondern recherchiert auch aus heutiger Sicht über seine damaligen Lehrer mit oft ernüchternden Resultaten zu manchem, den er als Student noch geschätzt und nun im Nachhinein aus seinen Schriften als Ehrenretter NS-belasteter Theologen oder Wortführer reaktionären Geistes neu kennengelernt hat. Nach dem Wechsel an die Uni Heidelberg – der Student heiratet und wird bald Vater einer Tochter – steigt der Puls. Die Studentenunruhen treten in ihre heiße Phase, der Schock über den Tod des Studenten Benno Ohnesorg trifft auch Jörn Wilhelm. Er ist nun mittendrin und zunehmend beteiligt, mutiert „fast schon zum ,Street Fighting Man’, zum Straßenkämpfer“, und erlebt, wie er schreibt, mitunter bürgerkriegsähnliche Zustände in Heidelberg. Damals veröffentlichte Berichte vom Geschehen konfrontiert er mit der eigenen Zeugenschaft, bringt gewaltsame Übergriffe der Polizei zur Sprache, bis heute fühlbar empört und ernüchtert von brutalem, überzogenem Handeln der Staatsmacht. Der rebellische Geist findet auch Eingang in die Examenszeit, prägt erste Predigten und schlägt sich schließlich nieder in einem Ordinationsstreit, in dem sich Wilhelm, der sich für die pfälzische Landeskirche entschieden hat, und seine Jahrgangskommilitonen gegen die Förmlichkeiten der überkommenen Pfarrerordination im Talar, mit Handauflegung und Niederknien zur Wehr setzen. „Diese Ordnung war nicht in Ordnung“, so Wilhelm. Der Streit beschäftigt bald Presse und Öffentlichkeit, führt zeitweise zur Suspendierung der jungen Vikare und wird schließlich mit einem Kompromiss beigelegt. Wilhelm ist zu dieser Zeit Vikar in Oggersheim. Die Vikarswohnung – in der Nachbarschaft des Bungalows von Helmut Kohl – war zeitweise der Treffpunkt der Verweigerer der alten Ordinationsregeln. Die Nordpfalz spielt auch in diesem Band nur am Rande eine Rolle, doch wie schon im ersten Band Kindheitsmonate in Standenbühl und Bennhausen erwähnt werden, so kommt der in Hamburg aufgewachsene Pfarrer auch im zweiten in Berührung mit seinem späteren Wirkungskreis – als streckte der beständig seine Fühler nach ihm aus. Zum einen macht er sich 1966 mit seinem Bruder Wolfgang, der eine große Rolle in diesem Teil des Lebensberichtes spielt, auf eine Pfalzwanderung, die ihn auch erstmals nach Steinbach bringt, wo er sich später niederlassen wird. Und im abgeschiedenen Niederhausen büffelt Wilhelm mit einem Kommilitonen fürs Examen. Auch der spätere Donnersberger Landrat Karl Ritter wird erwähnt – mit dem damaligen Schulrektor in Ludwigshafen gerät Wilhelm aneinander, als der in einer Rede die Akteure der Studentenunruhen in Heidelberg beschimpft. Auf diesen Seiten gibt es auch viel zum Schmunzeln, viel Anekdotisches, Berichte von kühnen Reisen mit wenig Geld, von Begegnungen etwa mit der Schauspielerin Elke Sommer. Dass der noch gänzlich unerfahrene Theologe in spe den Pfarrer auf der Kanzel so versteht, dass der den Theologen Bultmann als „Käsemann“ beschimpft, sorgt beim fortgeschritteneren Bruder für einen Lachanfall, der darauf den Bruder aufklärt, dass auch Ernst Käsemann ein bedeutender Theologe sei. Später nimmt Wilhelm in Heidelberg die Burschenschaften und ihre „barbarischen Männlichkeitsrituale“ aufs Korn und gründet eine „Anti-Verbindungsverbindung“ mit dem Namen Schuppjack. Lesenswert machen das Buch aber auch die prägnanten Charakterisierungen von Zeitgenossen, der klare Blick für wesentliche Lebenserfahrungen, die rückhaltlose Offenheit und auch Selbstkritik – und die Geradlinigkeit der Haltung eines Geistlichen, der sein Handeln nicht an einem Gott ausrichtet, „der allmächtig das Schicksal verhängt“, sondern an dem, „der ohnmächtig am Kreuz hing“. Eines Pfarrers, der nicht an diesem Titel hängt, sondern sich in den Kirchengemeinden als „Arbeiter unter Arbeitern“ versteht, „genauso entfremdet, genauso nach Änderung rufend und genauso auf Solidarität angewiesen, die ja nur ein anderes Wort für ,Brüderlichkeit’ ist“. Lesezeichen Jörn Wilhelm: Mit ausgebreiteten Flügeln. Erinnerungen eines Landpfarrers. Band II: Theologiestudium und frühe Amtsjahre 1964 bis 1972. Norderstedt - Books on Demand 2017. 334 Seiten; 10,99 Euro.

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