Frankenthal Ist Hagen Handlanger oder Sündenbock?

„Sie werden den anderen Zuschauern etwas voraus haben“, versprach Albert Ostermaier seinen Zuhörern im Wormser Lincoln-Theater. Ostermaier schreibt das Stück für die nächsten Nibelungen-Festspiele. Bei seiner Lesung am Samstag ging es ihm nicht nur darum, Facetten der Hauptfiguren aufzuzeigen. Zugleich stellte der Dichter seine Art des Schreibens und Denkens, also Facetten seiner eigenen Persönlichkeit vor. Unterstützt hat ihn die Schauspielerin Luise Weiß.

Albert Ostermaier

ist nicht nur einer der angesehensten Theaterautoren der Gegenwart, er ist auch enorm produktiv. Der 47-Jährige hat bereits 28 Stücke verfasst sowie neun Hörspiele und vier Musiktheaterstücke, für die er das Libretto geschrieben hat. Und nicht zu vergessen sind die 26 Lyrik-Bände, die es von ihm gibt. Doch von dem mit Spannung erwarteten Nibelungenstück gab es am Freitag noch nichts zu hören. Es ist in Arbeit, es soll im späten Herbst erscheinen. Aber es gab Einblicke in die Hauptfiguren - auf besondere Art. Ostermaier hat aus seinen bisherigen Werken, vor allem aus der Lyrik, Texte ausgewählt, die in die Figuren von Hagen, Kriemhild und Brunhild hineinwirken werden. Darüber hinaus wählte der Autor auch Auszüge aus seinem Roman „Schwarze Sonne scheine“ und einem aktuellen, noch unveröffentlichten Roman. Los ging es mit Texten zu Hagen. Hierfür las Ostermaier ausführliche Monologe des Shylock, die er der Figur aus Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ in den Mund gelegt hat. Ostermaier hat in seinem Werk „Ein Pfund Fleisch“ den jüdischen Kaufmann in die Gegenwart des krisengebeutelten Kapitalismus gestellt. Hier, wie auch in den folgenden Texten, werden die Zuhörer in einen Malstrom von Gedanken gerissen. Dabei entfaltet sich jeweils ein äußerst komplexes Bild: Die Figuren reflektieren ihr Handeln und ihre Maximen – aber reagieren auch auf ihre Umgebung. Um bei Shylock zu bleiben: Er zeigt sich als eiskalt berechnender Stratege, erfüllt das Klischee des Juden als Wucherer, aber zeigt auch, dass dieses Klischee in der Gesellschaft eine Funktion hat. Anders gesagt: Die Gesellschaft liebt skrupellose Geschäftemacher nicht, braucht aber deren Dienste, um zu funktionieren. Offen blieb nun die Frage, was das mit dem Hagen des Nibelungenliedes zu tun hat. Sicher ist Hagen ein Stratege, der auf Macht und Besitz aus ist. Aber welche Funktion hat er innerhalb der Nibelungen? Ostermaier sagte dazu nichts Konkretes. Zu überlegen wäre: Ist Hagen ein Sündenbock? Erledigt er einfach nur die Drecksarbeit? Wenn es Ostermaier gelingt, über die Figuren des Stücks diese Fragen zu stellen, verspricht das einen neuen Blick auf den Stoff und seine Charaktere. Und vielleicht erkennen ja die Zuhörer des Leseabends etwas davon in den Figuren wieder. In ähnlicher Weise ordnete Ostermaier auch Kriemhild und Brunhild Texte zu, die Facetten der Figuren und ihre Reflexion der Gesellschaft eröffnen. Allerdings verlangt das einiges von den Zuhörern. Schwierig ist dabei auch, dass der Autor sich gerne vom gewaltigen Fluss seiner Gedanken und Worte mitreißen lässt. Luise Weiß, die bei den Frauenfiguren stärker zum Zug kommt, ist an diesem Abend eine bereichernde Abwechslung. Durch sie gelingt es beim Zuhören, sich neu zu ordnen und Gedanken und Person auseinander zu halten. Ostermaier schlüpft mit manchmal beängstigender Intensität in seine Protagonisten, und wenn er von ihrer inneren Dynamik mitgerissen wird, muss man sich schon sehr konzentrieren, um bei ihm zu bleiben. Auf der Bühne verspricht das, spannend zu werden. (ghx)

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