Grünstadt Bach ist der Mount Everest

Das gab es in der mittlerweile gar nicht mehr so kurzen Geschichte des Kirchheimer Konzertwinters noch nie: Deutschlandradio Kultur zeichnet in Kooperation mit dem SWR Mainz ein Konzert auf und sendet es am 6. Februar um 20.03 Uhr bundesweit. Der Anlass: die Uraufführung einer zweifellos außergewöhnlichen Komposition. Der Schweizer Bachspezialist Professor Rudolf Lutz hat eine Wein-Kantate in der Art des Thomaskantors mit Kirchheimer Bezügen vertont, die am Samstag und Sonntag, 10. und 11. Januar, in der protestantischen Kirche Kirchheim erstmals zu hören sein wird – in Gesellschaft zweier wirklicher Bachkantaten. Roland Happersberger wollte darüber vom Komponisten Näheres wissen.

Herr Professor Lutz, Sie haben zur Uraufführung beim Kirchheimer Konzertwinter eine Bach’sche Weinkantate komponiert. Klingt die eher nach Bach oder eher nach Lutz?

Sie klingt in hochbarockem Stil, der sich natürlich durchaus mal auch bachisch anhört. Anklänge an Händel sind auch zu vernehmen. Schließlich überbringt in unserer Story die englische Königin Angela höchstpersönlich Grüße von Georg Friedrich Händel. Man hört, dass bei der Geburt dieses zweifellos ungewöhnlichen Projekts leckerer Kirchheimer Wein nicht unbeteiligt war. Wie kam es dazu? Letzten Januar durfte ich das Kirchheimer Barock Consort mit vier Kantaten von Bach leiten. Da wurde jeweils nach den strengen Arbeitstagen schön pfälzisch gebechert. Dominik Wörner hat ein „Weincrescendo“ organisiert und da lernte ich die verschiedenen edlen Kirchheimer Gewächse bestens kennen. Nach der Generalprobe ging die Stimmung hoch und wir fabulierten und dachten, eine Kaffee-Kantate und eine Bauernkantate von Bach existierten, jedoch fehle eine Weinkantate. Wenn man über 250 Jahre später im Bach’schen Stil geistliche und weltliche Verse, die im Libretto ja reichlich vorkommen, vertont, was ist das? Ein geistreicher Scherz, eine anregende Zeitreise, eine ernsthafte Kunstübung oder etwas ganz anderes? Wenn man sich kompositorisch mit einem Stil beschäftigt, ist es ähnlich, wie wenn man ein eigenes Haus entwirft und es dann zusammen mit einer Baufirma auch baut. Nach der Aufrichte (dem Konzert) sieht (hört) man das Resultat eins zu eins und bemerkt viele Details der barocken Baupraxis überdeutlich. Es ist für mich eine ernsthafte Kunstübung, sicherlich auch eine anregende Zeitreise und hoffentlich eine unterhaltsame Musik für unser Publikum. Sollten die Musikerinnen und Musiker auch noch Freude an der Aufführung haben, wäre ich sehr glücklich. Ich war bemüht um eine präzise „Musikalisierung“ des anregenden Textes. Pfarrer Karl Graf hat ein Libretto verfasst, das ziemlich den entsprechenden Barockstil des 18. Jahrhunderts trifft. Wie schafft man es, beim Komponieren alles zu vergessen, was die Musikgeschichte seit 1750 neu erfunden hat? Wie sind Sie beim Komponieren vorgegangen? Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht? Da ich über 20 Jahre an der Scola Cantorum Basiliensis das Fach „Historische Improvisationspraxis/Schwerpunkt Hochbarock“ unterrichtet habe, fällt es mir nicht schwer, mich stilistisch zu begrenzen. Ich spreche diese Musiksprache und habe gelernt, Rhetorik, Grammatik und Syntax so genau wie möglich zu beachten. Wie ich komponiere? Nach längeren Besprechungen mit meinem Librettisten skizziere ich die Grobabläufe, stelle eine Verlaufsskizze der einzelnen Nummern her und führe die Skizzen aus. Nach einigen Korrekturrunden (auch am Keyboard) liefere ich die Partitur an die Druckfirma ab, in unserem Falle die altbewährte Graesle&Woerner-Co.-AG (Unser Basssänger und mein Orgelspieler)! Meine Erfahrungen – es ist bereits die dritte Kantate in diesem Stil – sind: Kompositionshandwerk ist lernbar und hängt von den Kilometern ab, welche man schreibt. Für ein Masterdiplom in Kompositionshandwerk würde ich noch einige Dutzend Kantaten schreiben müssen… . Einfallsreichtum ist eine Gabe und wenn man stets um den „Mount Everest“ herumkreist, ich meine Johann Sebastian Bach, erkennt man das in noch viel stärkerem Maße. Kann man sagen, dass Sie durch ihr Bachprojekt der fortlaufenden Aufführung und Erläuterung Bach’scher Kantaten in dieser Klangwelt mehr zuhause sind als in jeder anderen? In der Funktion des Künstlerischen Leiters der J.S. Bachstiftung St. Gallen habe ich bereits 85 Bachkantaten studiert und dirigiert. Ja, es ist die Klangsprache, welche ich sicherlich am besten kenne, nebst Brahms und Beethoven. Wie ist es gelungen, den Rundfunk für die Weinkantate zu interessieren? Ein Freund der J.S. Bachstiftung St. Gallen hat sich sehr intensiv um einen Mitschnitt bemüht. Dies ist mir eine große Ehre und Freude, auch dass ich meine Kantate mit einem sehr guten Ensemble einstudieren und zur Aufführung bringen kann. Sogar mit dem alten Bach an der Orgel! (Dominik Wörner singt die Rolle Bachs und wird auch die große Orgel der St. Andreas-Kirche in Kirchheim „tractieren“.)

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