Hertlingshausen Höhen und Tiefen im Leben einer Schullandheim-Leiterin

Anna-Maria Klemm packt in ihrer Dachwohnung im Schullandheim der Stadt Frankenthal in Hertlingshausen nach 40 Jahren Einrichtung
Anna-Maria Klemm packt in ihrer Dachwohnung im Schullandheim der Stadt Frankenthal in Hertlingshausen nach 40 Jahren Einrichtungsleitung die Umzugskartons.

Für ganze Generationen ist das Schullandheim der Stadt Frankenthal in Hertlingshausen fest verknüpft mit einem Namen: Anna-Maria Klemm. Fast vier Jahrzehnte leitete sie das Haus, in dem sie auch wohnte. Am Dienstag zieht sie aus – schweren Herzens. Aber sie wird auch manches nicht vermissen.

Es gab schon so einige Nächte, da hat Anna-Maria Klemm mit dem Autoschlüssel in der Hand und in Hab-Acht-Stellung im Foyer gehockt, jeden Augenblick bereit, zu fliehen. Etwa als 2010 der Orkan Xynthia durch Mitteleuropa zog. „Ich hab durch die Fenster gesehen, wie die Bäume reihenweise umstürzten“, erinnert sich die Leiterin des Schullandheims Frankenthal an schaurige Momente. Auch manches heftige Gewitter mit Ausfall von Strom- und Handynetz trieb ihr den Angstschweiß auf die Stirn. „Und die Extrem-Unwetter kommen immer häufiger“, hat sie beobachtet.

Seit fast 40 Jahren lebt Klemm im westlichsten Gebäude der Streusiedlung Carlsberg, noch hinterm Naturfreundehaus Rahnenhof im Forst. „Ich war jung, die Welt stand mir offen und dann wurde aus der weiten Welt der tiefste Wald.“ Ebenso knapp wie treffend fasst die Hauswirtschaftliche Betriebsleiterin ihren Start in Hertlingshausen zusammen. Gerade 25 Jahre alt, aber schon mit einiger Berufserfahrung – auch in leitenden Positionen, etwa beim Jugendherbergswerk Hessen – bewarb sie sich um den Chefsessel im Schullandheim. Zum 1. Januar 1985 wurde sie von der Stadt eingestellt und bezog die Dienstwohnung im Dachgeschoss des erst 1980 errichteten Schlaftraktes mit insgesamt 76 Betten. „Damals herrschte Residenzpflicht für die Einrichtungsleiter.“

Anfangs eine Holzbaracke

Das heutige Hauptgebäude mit großer Küche, Büros, Unterrichtssälen, Mehrzweck- und Gruppen-, Werk- und Gymnastikräumen existierte noch nicht. „Hier stand eine Holzbaracke aus Wehrmachtszeiten“, erzählt Klemm. 1989 wurde sie abgerissen und nach zwei Jahren Bauzeit stand an derselben Stelle das heutige, großzügige Gebäude mit der fröhlichen gelb-roten Fassade. „Ich war von Anfang an in die Planung eingebunden, konnte Einfluss auf die Aufteilung und die Ausstattung nehmen. Insofern spreche ich immer von meinem Schullandheim“, macht die 65-Jährige deutlich, dass sie sich mit dem Haus stark identifiziert.

Noch in dem vorherigen Behelfsbau hatte Klemm, der sechs Teilzeitkräfte zur Seite stehen, im Frühling 1986 eine Herausforderung zu meistern: Nach dem Reaktorunfall im ukrainischen Tschernobyl am 26. April des Jahres trieb eine radioaktive Wolke gen Westen und „wir wussten nicht, ob wir die Kinder vor die Tür lassen können“, erläutert die Leiterin der gemeinnützigen Einrichtung, die von Klassen aus allen 19 Frankenthaler Schulen sowie aus umliegenden Bildungsstätten sowie von Vereinen, kirchlichen Gruppen und für Familienfreizeiten genutzt wird. „Ich lebe mit meinen Gästen, von denen ich viele immer wieder sehe und einen Bezug zu ihnen entwickelt habe“, sagt Klemm, die das Lachen liebt, wenn Kinder unbeschwert spielen.

Immer die erste Ansprechpartnerin

Sie hat aber auch Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft: als erste Ansprechpartnerin, wenn sich ein Kind verletzt, die Heizung ausfällt oder auch bei dem plötzlichen Todesfall, der ihr lange nachgegangen ist. In den 1990er-Jahren habe ein Lehrer auf einer Nachtwanderung ein Herzversagen erlitten. „Das ist schon dramatisch. Wenige Stunden zuvor hatte ich mich noch nett mit ihm unterhalten“, so Klemm. Da Smartphones damals noch nicht so handlich und verbreitet waren, gab es nur eine Chance: ein paar mutige Jungen bei dem Toten zurücklassen und mit den übrigen Kindern zum Schullandheim zurücklaufen, um Hilfe zu holen. Sogar wenn der Wald brennt, wird Klemm als erste kontaktiert. Letzteres sei in jüngster Zeit zweimal an derselben Stelle, etwa 600 Meter vom Haus entfernt, der Fall gewesen – bei der Brandstiftungsserie im Juli 2022 und vor den Sommerferien 2023.

Da beschleiche einen jeweils ein mulmiges Gefühl, sagt die Betriebsleiterin, die am Nikolaustag 1997 auch Flammen aus dem Dachstuhl des Rahnenhofs schlagen sah. Mit den Naturfreunden pflege sie eine gute Nachbarschaft: „Wir tauschen uns aus, nutzen beispielsweise dieselbe Wäscherei und dieselben Lieferanten.“ Auch ansonsten fühle sie sich nicht einsam im Wald, denn schließlich sei ja immer Leben im Haus. Außerdem hatte Klemm 25 Jahre lang ein Ehrenamt, das sie unter Leute brachte. Sie war Prüfungsausschussvorsitzende für Hauswirtschaft im Bereich Neustadt.

Zwei düstere Kapitel

Einmal habe sie aber doch sehr zu spüren bekommen, dass sie weit abgelegen und ohne Fahrstuhl im Dachgeschoss wohnt. Als sie sich nach einem Sturz im Oktober 2022 die Kniescheibe gebrochen hatte, waren die 38 Stufen nach oben eine enorme Herausforderung und auch, dass sie nicht mehr Autofahren konnte. Diese Monate waren der traurige Höhepunkt einer an sich schon fürchterlich düsteren Zeit. Mit Grausen erinnert sich die 65-Jährige an die Pandemie. „Da war es hier total unheimlich, draußen liefen nicht mal mehr Menschen mit ihren Hunden herum.“ Corona wird sie ganz sicher nicht vermissen und auch nicht „den unerträglichen Lärm im Speisesaal“.

Aber sie sei „mit dem Schullandheim in dieser wunderschönen Umgebung verheiratet“ gewesen, macht sie deutlich, dass ihr der Abschied extrem schwer fällt. Insgesamt seien es in Hertlingshausen „interessante und abwechslungsreiche, manchmal auch schwierige Jahre gewesen. Langweilig war es jedenfalls nie“, so das Fazit der alleinstehenden Frau, die am Dienstag in ihr Elternhaus in Hemsbach ziehen wird. Sie wird sich mit ihren Brüdern um die kranke Mutter und einen riesigen Garten kümmern, aber sicherlich noch Zeit finden für ihren Freundeskreis, für „Urlaub ohne Druck“, für „Radfahren ohne Berge“ und für das Lesen von Kriminalromanen. Vielleicht suche sie sich auch noch ein Ehrenamt. Zum 1. Oktober übernimmt Uwe Pütz die Leitung des Schullandheims. Der 60-jährige Verpflegungsbetriebswirt zieht aber nicht in die Dachwohnung ein. Klemm: „Heute müssen die Hausleiter nicht mehr dauernd vor Ort sein.“

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