Leichtathletik Der perfekte Moment in New York

Euphorisiert und glücklich: Manuela Oberinger (48) und Sybille Jung (58) haben die 42,195 Kilometer geschafft.
Euphorisiert und glücklich: Manuela Oberinger (48) und Sybille Jung (58) haben die 42,195 Kilometer geschafft.

Sybille Jung und Manuela Oberinger laufen durch den Central Park. Der Himmel färbt sich rosa und plötzlich ist er da, dieser perfekte Moment. Jung, die eine Beinprothese trägt, und ihre Physiotherapeutin laufen auf das Ziel zu. Aus den Lautsprechern klingt „We are the Champions“. Plötzlich fließen die Tränen. Beide wissen: Der Traum wird wahr, sie werden den New-York-Marathon finishen.

Die Entscheidung fiel innerhalb von Sekunden. Sybille Jung, seit einem Unfall vor 28 Jahren mit amputiertem Unterschenkel an Physiotherapie gewöhnt, lag bei Manuela Oberinger auf der Liege und die schwärmte ihr vor. Vom New-York-Marathon, den sie zum zweiten Mal gefinisht hatte. Jung war beeindruckt: „Du bist ja wirklich der Hammer“, sagte sie. Und die Physiotherapeutin aus Waldmohr, die längst zu ihrer Freundin geworden war, entgegnete: „Das kannst Du auch!“ Welche Folgen diese Aussage haben würde, und was das alles nach sich ziehen würde, war beiden zu dem Zeitpunkt noch nicht klar. Sie schlossen einen Pakt und nahmen das gemeinsame Ziel in Angriff: Beim nächsten New-York-Marathon wollen sie gemeinsam an den Start gehen, Jung mit Prothese und Oberinger als ihr Guide, der sie auf der ganzen Strecke begleitet.

Der steinige Weg

Der Weg dahin war steinig und nicht ganz einfach, denn mit Jungs Alltagsprothese, die am Knöchel steif ist und zum Gehen und auch Wandern geeignet ist, aber nicht zum Laufen, war die Mission schwer zu verwirklichen. Eine Sportprothese ist teuer, wird von der Krankenkasse nicht bezahlt und ist im Fall von Jung nicht so leicht anzubringen, weil ihr nach einem Unfall im Alter von 20 Jahren, als ein Auto sie und ihr Moped erfasste, nur noch ein kleiner Stumpf blieb und die Prothese praktisch direkt am Knochen aufliegt.

Doch die Physiotherapeutin gab nicht auf, machte ein Sanitätshaus ausfindig, das ihr ein entsprechendes Sportgerät mit Sprungfeder für rund 8000 Euro anfertigen wollte und unterschrieb. „Wir haben fest daran geglaubt, dass wir das Geld mit Sponsorenmitteln sammeln würden. Wenn nicht, hätte ich selbst gehaftet, ich habe ja unterschrieben“, erklärt Oberinger, die das Heft in die Hand nahm und zusammen mit Jung Spendenaktionen auf die Beine stellte.

Plätzchen und Training

Plätzchen wurden gebacken, in der Praxis verkauft, beim VfB Waldmohr startete ein Spendenlauf. Jung klapperte Firmen und potenzielle Unterstützer ab und sammelte Geld. Und sie trainierte. Zusammen mit ihrer Freundin, auf dem Laufband in der Praxis oder allein. „Da bin ich auch schon von Homburg aus zu ihr gelaufen, damit ich schon eine längere Strecke gelaufen bin, bevor wir loslegen“, erzählt sie.

Es dauerte ein bisschen, bis auch Jung überzeugt war, dass sie es schaffen kann. Oberinger erzählte ihr, dass gerade der New-York-Marathon für ein solches Projekt perfekt geeignet sei, weil der Veranstalter „Menschen mit Handycap sehr positiv gegenübersteht“. Da werde auch der letzte Läufer so gefeiert wie der erste, und das Zeitfenster, in dem die Läufer gemessen werden, ist nach hinten offen. „In dem Jahr gab es zum Beispiel einen Streckenrekord. Das wurde gar nicht groß erwähnt, stattdessen wurde eine Läuferin mit Downsyndrom gefeiert, die tränenüberströmt ins Ziel kam“, erzählt die 48-jährige Physiotherapeutin, die weltweit bei Läufen startet.

Hausaufgaben erledigt

Ihre zehn Jahre ältere Freundin aus Waldmohr hatte sich auf das große Event lange vorbereitet. Zwei- bis dreimal trafen sich die Physiotherapeutin und ihre Patientin zum Training. Jung, die inzwischen in Neustadt wohnt, lief aber auch bei sich zuhause und schickte ihrer Trainerin die getrackte Laufstrecke. Voraussetzung, um in New York starteten zu dürfen, war aber auch ein erfolgreich absolvierter Halbmarathon. Oberinger kümmerte sich darum und fragte beim Veranstalter in Kandel nach, der auch einen Marathon anbot, ob Jung über die Halbmarathonstrecke laufen dürfe und ob dafür die Cut-off-Zeit aufgehoben werden könne. Der Veranstalter sagte sofort zu, als er vom guten Zweck erfuhr. Nach 3:45 Stunden war die Läuferin im Ziel und damit für den Vorstart in New York zugelassen.

Sie trainierte weiter und war perfekt vorbereitet. Doch als der große Tag da war, wachte Sybille Jung auf und fühlte sich einfach nur schwach. Sie hatte sich erkältet und es war zunächst unklar, ob sie würde starten können. Die Physiotherapeutin päppelte sie mit Ingwershots und heißer Zitrone auf. Die Beiden beschlossen zu starten.

Der große Tag

Per Sonderbus wurden sie ins Vipzelt kutschiert und zusammen mit rund 500 anderen Startern mit Handycaps gefeiert. Jung saugte die Stimmung auf und genoss.

Sie durfte mit ihrer Gruppe vor den anderen Läufern starten und war froh, dass ihre Physiotherapeutin, Trainerin und Freundin dabei war, die noch andere Vorteile mit sich brachte. Während die meisten gehandicapten Läufer ihre Guides wechseln mussten, weil sie die Strecke nicht komplett durchhielten, hatte Jung mit der marathonerfahrenen Physiotherapeutin eine Läuferin an ihrer Seite, die locker mithalten und ihr dabei Tipps geben konnte.

Unerwartete Schwierigkeiten

Die Herausforderungen, die auf die Beinamputierte auf der Strecke warteten, waren anders als das, was Erstlinge sonst beschäftigt. Jung musste, besonders wenn sie überholt und angerempelt oder ihr aufmunternd auf die Schulter geklopft wurde, das Gleichgewicht halten, was auf der Prothese nicht immer einfach ist. Vor allem nicht, wenn Erschöpfung dazukommt und die Konzentration nachlässt. Das Problem gab es auch bei der Essens- und Getränkeausgabe. „Ich habe die Bereiche gemieden. Wenn am Getränkestand die gebrauchten Becher rumliegen, ist das nicht ganz so einfach“, erzählt sie von Hindernissen, die für andere Läufer keine sind. „Das hat sehr viel Kraft gekostet“, sagt auch Oberinger, die damit im Vorfeld nicht gerechnet hatte. Doch Jung dachte, statt sich aufzuregen, an die Blinden auf der Strecke, die die Becher nicht einmal sehen.

Sie machte das Beste draus und blieb optimistisch. Auch als sie Schmerzen am Stumpf bekam, die Prothese drückte. Am Meetingpoint ihres Reiseveranstalters bei Kilometer 26 entschied sich das Duo, auch aus Sicherheitsgründen, auf die Normalprothese zu wechseln und sich von Zeitenzielen zu verabschieden. Es ging jetzt nur noch darum, anzukommen. Mit der Alltagsprothese war an ein schnelles Tempo nicht mehr zu denken. Die beiden Freundinnen blieben optimistisch und genossen die Atmosphäre. Sie riefen von unterwegs aus per Facetime Jungs Tochter Laura an, die wegen ihrer Kids nicht dabei sein konnte und zuhause „die ganze Bude voll hatte und mit den Waldmohrer Mädels, die auch bei den Spendenaktionen viel geholfen hatten, eine Party feierte“. Alle waren vor dem Bildschirm versammelt und verfolgten den Weg von Lauras Mutter in New York per Tracker und mit Livebildern.

Einfach nur ankommen

Nach 8:40 Stunden war das Duo im Ziel. „Hätten wir die Prothese nicht wechseln müssen und wäre das mit der Erkältung nicht gewesen, hätten wir es locker unter acht Stunden geschafft, aber das Ziel war: ankommen“, relativiert Oberinger. Und auch Jung ist froh, dass sie die Spendengeber nicht enttäuscht hat. Aber für sie war ohnehin klar: „Aufgeben ist keine Option. Und wenn es nicht geklappt hätte, hätte ich jedem das Geld wieder zurückgezahlt“, macht sie deutlich.

Als das Ziel in Sicht war, genoss sie einfach nur noch, die Stimmung, die aufmunternden Zurufe, die Musik der 50 Bands an der Strecke, die Unterstützung von zuhause. Und dass ihr Sohn Yannik, ihr Freund Thorsten und ihre Freunde Daniel und Isabel mit in New York waren und diesen Moment miterlebten, der für Sybille Jung unvergesslich sein wird.

Ihre Medaille hängt jetzt zuhause im Flur, damit sie immer daran erinnert wird. Vielleicht kommt da irgendwann noch eine andere dazu. Oberinger versucht ihre Freundin zu überreden, mit ihr zum Reggae-Lauf nach Jamaika zu kommen, wo sie eine Reisegruppe zum Zehn-Kilometer-Lauf begleitet. Jung überlegt noch. Aber sie weiß auch: „Man muss aufpassen, was man sagt, wenn man bei ihr auf der Liege liegt.“

Etwas, das ihnen keiner mehr nehmen kann: Sybille Jung (rechts) und Manuela Oberinger haben in New York gefinisht.
Etwas, das ihnen keiner mehr nehmen kann: Sybille Jung (rechts) und Manuela Oberinger haben in New York gefinisht.
Auch die Enkel feuern die Oma an und sind stolz auf sie. Die Daheimgebliebenen verfolgen ihren Weg per Tracker übers Internet.
Auch die Enkel feuern die Oma an und sind stolz auf sie. Die Daheimgebliebenen verfolgen ihren Weg per Tracker übers Internet.
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