Kaiserslautern Der Rastlose

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Eine klassische Schönheit war er nicht mit seiner schlaksigen Figur und den vorstehenden Zähnen. Doch, was interessiert das, wenn einer alles und noch mehr gibt: Der große belgische Chansonnier Jacques Brel bleibt unvergessen. Jetzt ist die erste Biografie eines deutschsprachigen Autors erschienen: Jens Rosteck geht im leichtfüßigen „Brel – Der Mann, der eine Insel war“ vor allem den vielsagenden Chansons auf den Grund.

Gilbert Bécaud nannte man wegen seines Temperaments „Monsieur 100 000 Volt“. Das war aber noch lange nichts gegen diesen Orkan aus Belgien, dessen Name bis heute sofort die Kopfschallplatte ins Rotieren bringt. „Brel“, vier Buchstaben genügen, schon tanzt das sich irrwitzig steigernde „Amsterdam“ durch die grauen Zellen. Wiegt sich das hilflos zärtliche „Ne me quitte pas“ – verlass mich nicht – durch die Erinnerung. Oder „Une île“, eine Insel, und stetiger Sehnsuchtsort eines Rastlosen. Genau dort, auf Hiva Oa in der Südsee, hatte Brel endlich Ruhe gefunden, doch da war es schon zu spät für den Mann, der selbst einen Insel war, wie es im Untertitel der neuen Biografie heißt. Fast 40 Jahre nach seinem Krebstod 1978 ist es die erste aus deutscher Feder. Jens Rosteck hat sich bereits mit Monografien über Hans Werner Henze, Bob Dylan oder Kurt Weill einen Namen gemacht, vor allem aber durch das eindringliche Porträt der Édith Piaf, die sich genauso verströmt, verausgabt, verzehrt hat und ihre Lebenstragödie zwanghaft in den Gesang legen musste. Während Piaf jedoch aus der Gosse kam, wird Jacques Romain Georges Brel 1929 in eine wohlhabende Brüsseler Familie geboren. Jacky ist jedoch ein Tunichtgut und Schulversager, er langweilt sich im gediegenen Elternhaus, opponiert gegen den spießigen Vater. Für Abwechslung sorgen Pfadfinderausflüge und das Theaterspielen, zugleich ist er durchdrungen von den moralischen Prinzipien einer katholischen Jugendbewegung, tritt mit engagierten Kameraden in Hospitälern und Heimen auf. Dass Brel später mit beißendem Spott über die Kirche, die Bürger und Biedermänner – alles Schweine – herfällt, kommt einer Abarbeitung seiner Jugend gleich. Allerdings bleibt ihm die Empathie, sein Herz für die Benachteiligten, der Sinn für Gerechtigkeit, ohne sich politisch je klar zu positionieren. Dass er mit Miche, die er in der Jugendgruppe kennenlernt und früh ehelicht, ein Leben lang verheiratet bleiben wird, hat sicher mit der religiösen Prägung zu tun. Vielleicht auch mit seinem schlechten Gewissen. Denn seiner Familie – und das ist die Kehrseite – wird er bald schon überdrüssig. Brel kündigt die leitende Stellung in der väterlichen Kartonagenfabrik, er muss auf die Bühne, dringend. Auch seine kleinen Töchter interessieren ihn nie besonders. Miche lässt ihn ziehen. Und akzeptiert, dass Brel sein Leben mit anderen Frauen teilt. Gelegentlich sind es drei, vier gleichzeitig, die er geschickt aneinander vorbei lotst. Dieser Mann ist sowieso nicht zu bremsen, spürte auch jeder unwillkürlich, der ihn auf der Bühne erlebt hat. Selbst die kurzen Filmaufnahmen, die zigfach durchs Internet geistern, vermitteln diesen Eindruck. Blut und Wasser schwitzt dieser Barde. Bei seinen an die 300 Auftritten im Jahr reihen sich die Exzesse aneinander. Er fuchtelt, gellt, japst, rudert, hechelt, säuselt, krümmt seinen fragilen, dürren Körper. Einzigartig sind diese Performances, nachdem er endlich die Klampfe beiseitegelegt hat und mit fabelhaften Musikern zusammenarbeitet. Sie tragen ihn, bringen seine voluminöse Baritonstimme zur Geltung, reagieren auf jeden Wimpernschlag: der Pianist Gérard Jouannest, am Akkordeon Jean Corti, später Marcel Azzola, im Hintergrund Arrangeur François Rauber. Brel kann sich auf sie verlassen und singt doch dauernd um sein Leben, das er mit jeder Zeile durchleuchtet. Bewusst, unbewusst, je nachdem. Hier zeigen sich die Vorzüge dieser gehaltvollen wie leichtfüßigen Biografie: Jens Rosteck geht den vielsagenden Chansons auf den Grund, analysiert und deutet sie mit einer seltenen Mischung aus Einfühlungsvermögen und musikologisch-literarischem Sachverstand. Die Bandbreite von Brels Themen ist beträchtlich. Sie reicht vom Nachdenken über die Liebe in ihren eher fatalen Varianten oder dem nebeneinander Altwerden über das Aufrührerische, die bösen Attacken gegen „Les Bourgeoises“ und „Les Flamands“, seine Landsleute, die ihm die Beschimpfungen lange nicht verzeihen, bis hin zum Tod. Rosteck beschreibt ebenso Brels Doppelmoral, sein immerwährendes Kreisen um sich selbst. Aber auch die Zärtlichkeit, die aus vielen Zeilen dringt und deren Adressaten vor allem die Freunde sind, Jojo, Lino Ventura, Georges Brassens, alles Männer. Frauen stößt Brel dagegen oft vor den Kopf. Erbarmungslos kann er sein. Tochter France, mit der er die Welt umsegeln will, wirft der Ferien-Vater im Streit von seiner Yacht. Da hat er sein Bühnendasein längst beendet, die erfolglose Filmerei an den Nagel gehängt und sich Mitte der 70er Jahre befreit von allen Zwängen. Ihm sollte nicht mehr viel Zeit bleiben. Die erste Krebsoperation hatte er nur sechs Wochen hinter sich, da brach er mit seiner letzten großen Liebe Maddly im Januar 1975 in die Südsee auf. Hiva Oa, wo Paul Gauguin die Jahre vor dem Tod verbrachte, ist nicht die schönste Insel der Marquesas, aber Brel suchte Abgeschiedenheit, Stille. Doch keineswegs, um sich zu erholen. Mit Transportflügen nach Tahiti unterstützte er die Dorfbewohner von Atuona und freundet sich mit den Nonnen der Insel an – da war es wieder, das alte Pfadfinderherz. Und wenn Musik aus seinem Haus drang, dann Schubert. Doch mit nur 49 Jahren stirbt Brel am 7. Oktober 1978 im Krankenhaus eines Pariser Vororts. Begraben ist er allerdings unweit seines Idols Gauguin. Auch ein Mann wie eine Insel, der für das normale Leben nicht gemacht war. Lesezeichen —Jens Rosteck: „Brel – Der Mann, der eine Insel war“; Mare Verlag; 240 Seiten; 24 Euro.

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