Kaiserslautern Der Tod ist keine große Kunst

Andrea Schwalbachs szenische Deutung von Giacomo Puccinis Oper „La Bohème“ am Theater Heidelberg überzeugt vor allem in jenen Momenten, in denen sich die Regie kammerspielartig ganz auf das Seelenleben der Personen konzentriert. Die Chorszenen im zweiten und dritten Akt wirken dagegen etwas knallig-bunt beliebig. Dafür gibt es eine Sänger-Entdeckung zu vermelden: Andrea Shin, der auch an größeren Häusern gastiert, sang einen herausragenden Rodolfo.

Das Leben als Inszenierung. Als Performance. Vier Männer und ihre Lebenskunst. Mehr noch: ihre Überlebenskunst. Das Regieteam von Andrea Schwalbach mit Nanette Zimmermann (Bühne) und Frank Lichtenberg (Kostüme) hat den vier Künstler-Freunden einen Kasten gebaut, in dem sie sich produzieren können. Sie spielen ihr Leben. Auch für Mimi, die herzhaft lachend zuschaut, ehe sie selbst Teil des Spiels wird. Auch die Liebe zwischen Rodolfo und Mimi ist zunächst nur ein Moment der Lebensinszenierung. Doch die Realität ist stärker. Nach dem schrillen zweiten Bild, das so wirkt, als sei das Leben tatsächlich eine bunte Mangawelt, wie sie sich Mimi erträumt, folgt die Tristesse. Eifersucht, Flucht vor der Verantwortung für den anderen. Kontrollwahn. Die Liebe ist kein Spiel. Vielmehr bitterer Ernst. Das müssen nicht nur Mimi und Rodolfo, sondern auch Musetta und Marcello akzeptieren. Schließlich das Schlussbild. Der Wille zur Selbstinszenierung ist auch angesichts des Todes noch da. Doch der Tod ist ganz banal. Man kann ihn nicht inszenieren. Die Kunst des Sterbens ist eine Überforderung. Der Tod ist keine große Kunst. Das muss auch Mimi einsehen. Sie flüchtet in die Gemeinschaft der Künstler zurück. Zusammen mit Musetta nehmen diese den Tod der jungen Frau in ihrem Kreis auf. Die Masken fallen. Das Spiel ist aus. Puccinis Musik dazu ist bisweilen von überwältigender Wucht. Nicht nur, weil er vielleicht die schönsten Liebesduette der Operngeschichte schreiben konnte, sondern viel mehr noch, weil ihm allen Unkenrufen seiner Kritiker zum Trotz, die in ihm eine Art Filmmusik-Scharlatan sahen, eine nachgerade einzigartige Symbiose zwischen sinnlichem Pathos und ganz konkretem musikalischem Realismus gelingt. Hinter der Hochglanzfassade der Liebesemphase lauert auch in „La Bohème“ von Beginn an der Tod: die tödliche Krankheit, die in der Heidelberger Inszenierung zunächst einmal noch ganz spielerisch eingeführt wird. Mit Gad Kadosh steht ein Dirigent am Pult des Philharmonischen Orchesters Heidelberg, der immer wieder gezielt auf die Höhepunkte der Partitur zusteuert, dazwischen jedoch hin und wieder die Spannung aus den Augen verliert. So plätschert der Beginn des ersten Aktes vor der Begegnung zwischen Mimi und Rodolfo etwas lapidar und beliebig vor sich hin, und in den großen Chorszenen des zweiten Aktes kommt es dann doch auch zu einigen Wacklern zwischen Bühne und Graben. Aber Kadosh breitet zugleich den roten Klangteppich für die Solisten aus. Er lässt ihnen alle Freiheiten, um ihre großen Kantilenen auszusingen. Es ist vor allem der Tenor Andrea Shin, der diese Freiheiten nützt und zugleich mit einer ganz außergewöhnlichen Stimme begeistert. Er hat in Mittellage und Tiefe genügend Potenzial, auch viele unterschiedliche Farben in seinem Timbre. Und die Spitzentöne sind zum Teil phänomenal: strahlend, glänzend, schlichtweg unwiderstehlich. An seiner Seite braucht Hye-Sung Na etwas länger, um in den Abend zu finden. Sie scheint zu Beginn etwas verunsichert. Da wirkt dann ihre so höhensichere Stimme fast etwas kalt, jedenfalls wenig sinnlich. Das wird nach der Pause deutlich besser, und gerade den Schlussakt gestaltet sie äußerst intensiv. Hier erleben wir dann auch eine völlig andere Musetta. Irina Simmes macht aus dieser Figur zunächst eine höchst attraktive, erotisch flirrende Frau, die die Männer reihenweise um den Finger wickelt und um ihr Geld bringt. Doch ihr Mitleid mit Mimi am Ende ist echt. Vielleicht auch, weil sie weiß, dass ihr ein ähnliches Schicksal drohen könnte? Zumindest muss sie akzeptieren, dass auch das Kunstgebilde ihres Lebens vom Tod bis in seine Grundmauern erschüttert wird. Mit Ipca Ramanovic als Marcello, James Homann als Schaunard und Bartoz Urbanowicz als Colline stellt auch das restliche Ensemble seine Spielfreude unter Beweis. Termine 4., 6., 17. Juni; 1., 12. Juli.

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