Kaiserslautern Die Akrobatin und der steinerne Gast

Drei Jahre nach seinem fulminanten „Liebestrank“ hat der mexikanische Tenor Rolando Villazón erneut zu den Pfingstfestspielen im Festspielhaus Baden-Baden eine Oper in Szene gesetzt. Bei Verdis „La Traviata“ ist ihm wieder ein großer Wurf gelungen. Auch musikalisch ist die Einstudierung große Klasse.

Wieder überzeugt der Sänger, der diesmal nicht selbst auf der Bühne steht, mit seiner großen theatralischen Originalität und seiner poetischen Einfühlsamkeit in Personen und Szenen. Nicht alles an seiner Inszenierung ist neu, aber im Ganzen entwirft Villazón ein unvergleichliches und überaus ansprechendes, ja anrührendes szenisches Spiel. Die große Uhr kennen wir aus der Salzburger Produktion von Willy Decker vor zehn Jahren, bei der der Tenor als Alfredo an der Seite von Anna Netrebko brillierte. Auch ist eine Dramaturgie, bei der sich die sterbende Violetta das Geschehen der Oper im Rückblick noch einmal vergegenwärtigt, naheliegend und gängig. Doppelgänger(innen) sind gleichfalls nichts Ungewöhnliches. Bei der jüngsten „Bohème“ in Karlsruhe ging das gehörig schief. Ganz anders bei Villazóns Verdi in Baden-Baden. Er stellt Violetta als anderes Ich eine Luftartistin zur Seite (Susanne Preissler mit spektakulären Einlagen) und verlegt einen Gutteil der Handlung in das Zirkusmilieu, in die Welt des schönen Scheins, des Spiels, des Karnevals. Violetta als Akrobatin: Das erinnert an Lulu, ihre nicht so ganz entfernte Verwandte aus Alban Bergs Oper, wo der Athlet diese zur „graziösesten Luftgymnastikerin der Jetztzeit“ machen will. Dank einer unaffektierten, aber genauen Personenregie und vielen sinnfälligen Anspielungen und Details gelingt es Villazón, sein Konzept mit zwingender Wirkung auf die Bühne zu bringen. Ein packender Einfall ist es, Vater Germont wie den steinernen Gast in Mozarts „Don Giovanni“ als Repräsentant einer strengen metaphysischen Macht auftreten zu lassen. Kurz: Es gibt in dieser Regie ganz viel zu entdecken, nachzudenken und mitzufühlen – und durch das herrlich pittoreske Bühnenbild von Johannes Leiacker und die schillernden Kostüme von Thibault Vancraenenbroek gibt es auch viel zu sehen. Und viel zu hören. Olga Peretyatko singt mit leichter und beweglicher Stimme eine ebenso virtuose wie lyrisch empfindsame Violetta. Sie entfaltet zunächst viel Brillanz, um im dritten Akt zu tief bewegendem, völlig unmanieriertem Ausdruck zu finden. Der junge brasilianische Tenor Atalla Ayan glänzt mit klangschöner, in allen Lagen sicher geführten Tenorstimme. Sein Sinn für Verdis Melos ist enorm, seine Emphase mitreißend. Simone Piazzola, wiewohl jung an Jahren, gestaltet den „Commendatore“ Giorgio Germont sehr nachdrücklich – und das gerade, weil er auf subtil eingesetzte Gesangskunst setzt. Allein sein Piano ist eine Klasse für sich. Überaus hochkarätig sind die kleinen Partien besetzt. Dass die historische Aufführungspraxis auch der Musik Verdis neue Seiten abgewinnt, wurde in Baden-Baden schon bei den Produktionen von „Rigoletto“ 2004 und „Falstaff“ 2007 deutlich. Auch bei der „Traviata“ ist dadurch die Farbigkeit des Klanges und die dynamische Bandbreite viel größer als in konventionellen Einstudierungen. Die so spürbar gesteigerte Sprachkraft und Durchsichtigkeit des Orchesterparts sorgen in verblüffender Weise dafür, dass mit alten Instrumenten die Musik viel rigoroser und moderner klingt als üblich. Pablo Heras-Casado ist – wie vor drei Jahren beim „Liebestrank“ – am Pult des groß besetzten Balthasar-Neumann-Ensembles ein überlegen gestaltender und für einprägsame dramatische Akzente sorgender Dirigent. Dass der Chor in dieser Oper ein ganz anderes, viel tragenderes Gewicht bekommt, wenn so differenziert und klar gesungen wird, als wäre es eine Kantate von Bach, beweist der erstklassige Balthasar-Neumann-Chor. Termin Die letzte Vorstellung der „Traviata“ bei den bis zum Samstag dauernden Pfingstfestspielen ist am Freitag, 29. Mai, um 19 Uhr. Karten unter Telefon 07221 3013-101, www.festspielhaus.de.

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