Kaiserslautern La Grandeur: Der Nationalstolz Frankreichs

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Im Deutschen gibt es kein bedeutungsgleiches Wort für den französischen Begriff „Grandeur“. Denn er steht nicht einfach nur für Größe, sondern auch für Herrlichkeit, für das Besondere. Wenn also von Frankreichs „Grandeur“ die Rede ist, dann ist damit die Herrlichkeit, die Sonderstellung, ja die Würde der Nation gemeint.

Die Franzosen mögen es nicht, wenn sie als „La Grande Nation“, also als „die große Nation“, bezeichnet werden. So wird allenfalls die kurze historische Epoche nach der Revolution von 1789 bis zu Napoleons erfolgreichen Feldzügen bezeichnet, in der Frankreich Europa dominierte. Die „Grandeur“ aber wird immer wieder beschworen, von allen Staatspräsidenten der Fünften Republik und vor allem bei großen nationalen Erfolgen oder bei gewalttätigen Angriffen auf Franzosen und die französische Gesellschaft. Frankreich ist viel länger eine Nation als Deutschland. Schon im 12. Jahrhundert entsteht so etwas wie ein Nationalgefühl, jetzt heißt das Königreich nicht mehr „Gallia“, sondern „Francia“. Jeanne d`Arc (1410 bis 1431) wird mit ihrem Kampf gegen die Engländer zur Legende und zur Nationalheiligen. In der Revolution von 1789 setzt sich zunächst der Volkswille gegen das absolute Königtum durch. Die Nation wird Staatsnation. Das Königtum kehrt zwar zurück an die Macht, aber der Gedanke der Volksherrschaft, der Demokratie, lässt sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Die Forderungen der Französischen Revolution von 1789, „Liberté, Egalité, Fraternité“ – „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, begründen wesentlich den Nationalstolz der Franzosen und ihr Bewusstsein von einer Sonderstellung unter den Völkern. Trotz aller Rückschläge und Niederlagen ist es Frankreich gelungen, diese Sonderstellung zu bewahren: Es ist eines der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Es ist eine militärische Atommacht. Es ist Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, das ist die Vorläuferorganisation der Europäischen Union (EU), welche ohne Frankreich nicht vorstellbar ist. Frankreich ist flächenmäßig das größte Land der EU und das drittgrößte Europas (nach Russland und der Ukraine). Mit 66 Millionen Einwohnern steht es in der EU an zweiter Stelle und in Europa an dritter (nach Russland und Deutschland). Es ist noch die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Aber Frankreichs „Grandeur“ speist sich vor allem aus seiner Kultur. Jede Auflistung herausragender Schriftsteller, Komponisten, Musiker, Bildhauer, Maler, Architekten, Philosophen wäre unvollständig. Sie alle prägten und prägen die Gesellschaft bis heute mehr, als es in vielen anderen Ländern der Fall ist. Symbolisch für das Kunstverständnis der Franzosen ist das Chanson, das Lied mit anspruchsvollem Text. So gut wie alle Franzosen lieben es. Wenn im Supermarkt über die Lautsprecher ein gesellschaftskritisches Lied von Charles Aznavour erklingt, hört man auch die einfachen Leute vom Lande, wie sie mitsummen. Nicht zuletzt sind es die Vielfalt und die Schönheit seiner Landschaften und Städte, die Frankreichs „Grandeur“ ausmachen. Es ist das meistbesuchte Land der Welt! Die Franzosen erfüllt das mit Stolz. Der Satz „J`aime la France“ - „Ich liebe Frankreich“ geht ihnen leicht über die Lippen. Niemand anderes hat die „Grandeur“ Frankreichs so verkörpert wie Charles de Gaulle, der Retter des freien Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg und Gründer der V. Republik. „Nichts ergriff mich mehr als die Symbole unseres Ruhmes. Nichts machte größeren Eindruck auf mich als die Zeugnisse nationaler Erfolge. Nichts versetzte mich tiefer in Trauer als unsere Schwächen und Irrtümer“, gestand er in seinen autobiografischen „Mémoires de Guerre“ (Kriegsmemoiren). De Gaulle hatte eine gewisse Idee von Frankreich („une certaine idée de France“): „Was es in mir an Gefühl gibt, stellt sich Frankreich als einer außerordentlichen und erhabenen Berufung geweiht vor ... Nach meiner Überzeugung kann Frankreich nicht Frankreich sein ohne Grandeur.“ Und es fehlte ihm nicht an pathetischer Ausdruckskraft, mit der er diese Idee verkündete: „Frankreich kommt aus den Tiefen der Zeit. Es lebt. Die Jahrhunderte rufen es an.“ Und heute, 46 Jahre nach dem Tod des großen De Gaulle? Die beiden zuletzt amtierenden Präsidenten, Nicolas Sarkozy und Francois Hollande, haben nichts von dieser „Grandeur“ verkörpert. Dabei hatte doch De Gaulle gewarnt: Wenn man den Franzosen kein Hochgefühl für ihr Land vermittele, für seine Würde und seinen Edelmut, dann verfielen sie in Mittelmaß und Lethargie, dann schimpften sie nur und gingen ins Bistro! Heute scheint vielen Franzosen die „Grandeur“ verloren gegangen zu sein. Sie sind unzufrieden mit dem Staat und den Politikern. Die „Grandeur“ steht im Schatten von „La France profonde“. Auch für diesen Begriff gibt es keinen bedeutungsgleichen im Deutschen. „La France profonde“ meint das tiefe Frankreich, das fernab von Paris ist, das ländliche Frankreich, das doch das tiefste Innere Frankreichs verkörpere. Die Menschen in „La France profonde“ fühlen sich vom Staat und den Politikern vernachlässigt, ja verraten. Sie zweifeln am System, an der Demokratie, an Europa. Marine Le Pen führt sich auf als eine Jeanne d`Arc von „La France profonde“. Emmanuel Macron appelliert an Frankreichs „Grandeur“. Eine Mehrheit der Franzosen wird sich am kommenden Sonntag für den Präsidentschaftskandidaten entscheiden, der Frankreichs „Grandeur“ wiederherstellen will. Aber die Unzufriedenheit in „La France profonde“ wird deutlicher werden als bei jeder Präsidentenwahl zuvor in der V. Republik. In dieser Serie sind Beiträge über Frankreichs Parteien (5. April), die französische Protest- und Streikkultur (12. April), die Kluft zwischen Volk und Eliten (16. April/RHEINPFALZ am SONNTAG), die abgehängte Landbevölkerung und über die Rolle der Kultur in Frankreich (beide am 20. April) und über die wirtschaftliche Situation in unserem Nachbarland (2. Mai) erschienen. Zum Autor Michael Garthe ist Chefredakteur der RHEINPFALZ. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz hat er sich besonders mit der Europäischen Einigung und den deutsch-französischen Beziehungen befasst. Er liebt Lothringen fast so sehr wie die Pfalz.

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