Kaiserslautern Urbanes Beben

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Enjoy Jazz ist nicht nur das größte Jazzfestival in Deutschland, sondern auch eine weitläufige Experimentierbühne. Jazz ist ja schon lange kein exakt vermessenes Genre mehr, eher eine nach vielen Seiten hin offene Form. Bei der 17. Auflage des seit drei Wochen laufenden „Festivals für Jazz und Anderes“ wird besonders viel probiert und erkundet. Ein Streifzug durchs Konzertgeschehen in Mannheim und Ludwigshafen.

Brad Mehldau mag diesen Ort. Der US-amerikanische Pianist hat schon mehrfach in der Mannheimer Christuskirche gespielt, etwa im Duo mit Joshua Redman und Charlie Haden. Diesmal ist er alleine gekommen, sitzt im Altarraum des Jugendstilbaus an seinem Steinway, wirkt zufrieden und sehr konzentriert, drumherum das erwartungsfrohe Publikum. Mehldau hat Popsongs mitgebracht, Songperlen von Neil Young, Bob Dylan, den Beach Boys, den Beatles, auch „Pinball Wizard“ von The Who ist dabei und eine Nummer von Bluegrass-Fiddler Tommy Jackson. Diese Songs bilden die Startrampe für Mehldaus Improvisationsfeuerwerk, aus ihren eingängigen Melodielinien eröffnet er weite Klangräume, aus Rhythmusfragmenten formt er minimalistische Verdichtungen, unternimmt atemberaubende Harmoniewechsel, improvisiert mit seinen beiden Händen in unterschiedlichen Metren und Tonarten. Mehldau will die Songs nicht dekonstruieren oder gar zerstören, er will ihre hymnischen Kraftzentren freilegen, ihren melodischen Kern zum Glühen bringen. Er tut dies auch nicht mit dem ironischen Augenzwinkern des Avantgardisten, sondern mit dem euphorischen Gestus des Romantikers. Das klingt über weite Strecken eher nach Klavierkonzert als nach Jazzpiano, und das Brahms-Intermezzo als Zugabe wirkt kein bisschen als Fremdkörper in diesem großartigen Konzert. Der Jazz, das kann man bei diesem Festival wieder sehr gut erfahren, ist zur postmodernen Spielwiese geworden. Die seit langem in Deutschland lebende japanische Pianistin Aki Takase ist eine Art Vordenkerin dieser Kunst. Den Jazz von Fats Waller bis Cecil Taylor hat sie zu ihrem Erkundungsterrain gemacht, das Umland zeitgenössischer E-Musik gleich mitbesichtigt. In die Alte Feuerwache nach Mannheim hatte die 67-Jährige ein kammermusikalisch anmutendes Quartett und eigene Kompositionen mitgebracht, ein Stück ihres Ehemannes Alexander von Schlippenbach war auch dabei. Das bewegt sich ungeniert zwischen Neuer Musik und Tango, zwischen Free Jazz und Arvo Pärt. Donaueschingen ist da von Buenos Aires nur ein paar schräge Takte entfernt. Der Klarinettist Louis Sclavis, der Cellist Vincent Courtois und der Geiger Dominique Pifarely, alle drei Grenzgänger zwischen Jazz und klassischer Musik, dürfen zwar auch solistische Akzente setzen, dabei aber den Blickkontakt zum Notenblatt nicht verlieren. Noten brauchen die Sons of Kemet keine. Die vier Londoner Jungs machen aus karibischem Getrommel, einer klangmächtig dröhnenden Tuba und einem zwischen Rockgestus und Brötzmann-Eruptionen dahinjagenden Saxophon einen hochenergetischen Sound. Hätten die Sex Pistols beim Straßenkarneval mitgemacht, wäre vermutlich Ähnliches herausgekommen. Auch die Noise-Attacken eines John Zorn kommen einem vielleicht in den Sinn. Das klassizistisch aufgehübschte BASF-Gesellschaftshaus in Ludwigshafen war so nicht ganz der perfekte Ort für ein solch urbanes Beben, aber selbst das brav sitzen gebliebene Publikum war am Ende ganz aus dem Häuschen. Besser an diesen Ort hätte vielleicht der norwegische Trompeter Mathias Eick gepasst, der wiederum mit der betonnüchternen 70er-Jahre-Ästhetik des Ludwigshafener Kulturzentrums Das Haus klarkommen musste. Der Mann aus dem Norden hat seine Liebe für den Mittleren Westen entdeckt. Auf einer USA-Tour mit langen Fahrten im Bandbus überkamen ihn beim Anblick der hohen Berge und des weiten Himmels heimatliche Gefühle. Seine Musik erzählt nun davon, die neuen Kompositionen verbinden Fjord mit Country, entwerfen traumverlorene Klanglandschaften, in denen Eicks melodieselige Improvisationen wie glückliche Wanderer umherstreifen. Der von dem Geiger Erlend Viken beigesteuerte Folkloreton bekommt dabei eine deutlich unterkühlte Note, dieser Folkjazz kommt am Ende ja doch aus Oslo und nicht aus South Dakota. Auf Dauer war das aber allzu lieb, und man war dankbar für ein paar ältere Stücke mit sattem Groove. Im Zentrum des zeitgenössischen Jazz steht seit vier Jahrzehnten der amerikanische Saxophonist und Klarinettist David Murray. Hier fand der künstlerische Abstecher gattungsübergreifend Richtung Literatur statt. Nach Mannheim hatte der 60-Jährige neben seinem Infinity Quartet den Lyriker, Sänger und Performer Saul Williams mitgebracht. Erfolge in der Poetry-Slam-Szene haben dem 42-jährigen New Yorker Filmrollen und ein Projekt mit den Nine Inch Nails eingebracht. Seine gesellschaftskritischen, von dunkler Urbanität umflorten Texte erinnern trotz gelegentlich insistierender Reime weniger an Rap als an ältere Vorbilder, die Beat Generation etwa oder die Black-Power-Lyrik eines Amiri Baraka. Beim Auftritt in der Feuerwache wurde daraus keine Lyrik-und-Jazz-Beschaulichkeit, sondern ein spannungsreich pulsierender Dialog. Mittendrin Murrays Saxophongirlanden, ein unverkennbarer Ton von vibrierender, durchaus fragiler Schönheit, der jederzeit in elegische Gelassenheit oder hitziges Überblasen umschlagen kann.

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