Geschichten aus der Geschichte Zwei Tage Richtung Bodensee verschollen

Großglockner und Königssee gehörten zu den Höhepunkten der Jubiläumsfahrt 2023.
Großglockner und Königssee gehörten zu den Höhepunkten der Jubiläumsfahrt 2023.

Busreisen werden auch heute noch angeboten. Doch vor 70 Jahren waren sie ein ungleich abenteuerlicheres Unterfangen. Unser Autor Hermann Settelmeyer, heute selbst Organisator solcher Fahrten, saß damals als Jugendlicher auf der Rückbank und erinnert sich an die Zeiten, als man auf Reisen noch gleichsam verschollen war.

Sommerferien 1953. An einem der ersten Ferientage ist morgens um 6 Uhr schon halb Weingarten unterwegs. In der Ortsmitte steht ein Bus, ein roter Borgward mit langer Schnauze, voll besetzt mit 40 Personen im Alter von sechs bis über 60. Mehr als doppelt so viele Zuschauer stehen um das Fahrzeug herum und bewundern die Abenteurer, die zwei Tage zum Bodensee wollen.

Das Programm ist einfach. Der Fahrer kennt die schönen Fleckchen, die es sich unterwegs lohnt anzusteuern: Schloss Lichtenstein auf der Schwäbischen Alb, die berühmte Wieskirche, Klosterkirche Zwiefalten und viele andere. Es sind Kunstwerke, wie man sie in diesen Jahren kurz nach dem Krieg noch nie gesehen hat, alle frei zugänglich ohne Schloss und Riegel.

Marktstände werden abgebaut

In Tübingen gerät man durch enge Straßen auf den Marktplatz, der voll besetzt ist mit Verkaufsständen. Einige müssen abgebaut werden, damit der Bus weiterfahren kann. Aber die Reaktion ist anders als heute: Die Businsassen winken lachend hinaus, die Betroffenen lachend herein und hinter dem Bus baut man einfach alles wieder zusammen.

Alle zwei Stunden fährt der Bus an einen kleinen Rastplatz vor einem Wäldchen, damit man Gelegenheit hat zum Austreten. Gegessen wird das Mitgebrachte aus den Taschen, einer hat sogar drei Tage zuvor eigens geschlachtet, um nicht zu verhungern. Beim Fahren knien die Jugendlichen auf der Rückbank und winken den wenigen Autos unterwegs, treiben meist allerhand Schabernack zu beiderseitigem Spaß.

Günstige Übernachtung im Heu

Nach unvergleichlichen Eindrücken kommt man dann abends um 21 Uhr in einem kleinen Ort am Bodensee an. Der Fahrer sitzt inzwischen knapp 16 Stunden hinter dem Steuer. Von überall strömen Leute herbei und bieten Zimmer an, Bett 1,50 DM, mit Frühstück 2 DM. Ein Bauer nimmt die Jugend für 40 Pfennige mit aufs Heu. Ein sparsamer Erwachsener ging mit. Er fand als Fremdkörper in der Scheune die ganze Nacht über keine Ruhe.

Niemand wusste, was zuhause los ist, niemand zuhause wusste, wie es den Ausflüglern geht. Es war schließlich die Zeit ohne Telefon, in Notfällen wurden Reisende übers Radio verständigt. Aber heimatliche Sorgen waren unberechtigt. In bester Laune ging es nach Katzenwäsche im Dorfbrunnen am nächsten Tag weiter, nun auf etwas anderer Strecke Richtung Heimat, um neue Schätze erleben zu können: Der Weg ist das Ziel. Um 22 Uhr gab es noch eine Zwischenlandung im Bahnhof Stuttgart. Schließlich wollte man nicht zu früh zuhause sein. Unter lautem Hallo lief der Bus dann um Mitternacht daheim ein. Die Ausflügler wurden mit herzlichen Umarmungen begrüßt, wieder nahm das halbe Dorf Anteil. In den nächsten Wochen gab es allerhand zu erzählen.

Die Fahrten gibt es immer noch, ununterbrochen und jetzt genau seit 70 Jahren, wenn sie inzwischen auch etwas länger dauern und weiter weg führen, die Busse luxuriöser und die Quartiere im Voraus ausgesucht und bestellt sind. Sogar Teilnehmer der ersten Reise sind noch dabei, die aus der Rückbankgruppe.

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