Ludwigshafen „Das tut weh, klar“

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Herr Kehl, Sie werben großflächig für den Räumungsverkauf. Wie läuft’s? Kehl:

Ganz gut. Wäre das Kundenaufkommen schon vorher so hoch gewesen, wären wir glücklicher. Sprechen Ihre Kunden Sie auf die Geschäftsaufgabe an? Kehl: Mehrfach jeden Tag. Viele bedauern es, dass wir gehen. Aber fast alle haben auch großes Verständnis. Es tue Ihnen in der Seele weh, den Standort verlassen zu müssen, haben Sie in unserem letzten Gespräch gesagt. Hält der Schmerz weiter an? Kehl: Der hält natürlich weiter an. Einen Standort, der 102 Jahre besteht, gibt man nicht leichtfertig auf. Wenn man jetzt sieht, wie der Laden Stück für Stück zerfällt, ist das nach wie vor ein schmerzhafter Prozess. Empfinden Sie das Aus auch als persönliche Niederlage? Kehl: Nein. Durch die Entwicklung in unserem Mannheimer Laden, den wir jetzt seit fast zwei Jahren betreiben, fühle ich mich in meiner Entscheidung absolut bestätigt. Das war der richtige Schritt. Im Gegensatz dazu sind die Umsätze in Ludwigshafen immer schlechter geworden. Welche Ursachen hat das? Kehl: Die hauptsächliche Ursache ist, dass die Stadt ausstirbt. Wir leben zu 90 Prozent von Stammkunden. Nur deshalb haben wir uns so lange hier gehalten. Aber Stammkunden benötigen irgendwann nichts mehr, das ist ein ganz normaler Prozess. In der Vergangenheit konnten wir das durch Neukunden ausgleichen. Leute, die am Schaufenster vorbeigelaufen und dann in den Laden gekommen sind. Diese Laufkundschaft ist uns weggebrochen. Das ist immer extremer geworden. Wir haben immer weniger Leute in der Straße, die unsere potenziellen Kunden sind. Inwieweit trägt die Politik dafür die Verantwortung? Kehl: Ich will es mal so sagen: Verursacht wurde dieses Aussterben durch die Großprojekte der vergangenen 40 Jahre – das mögen für Ludwigshafen alles sinnvolle Vorhaben gewesen sein. Sie gingen aber immer zu Lasten der Innenstadt. Der Hauptbahnhof wurde aus der City heraus verlegt, mit der Walzmühle sind die Kinos, mit dem Oggersheimer Gewerbegebiet „Westlich B 9“ ist Sport Scheck verschwunden. Decathlon hat seine Zusage, ein Sportgeschäft im Zentrum anzusiedeln, nie eingehalten. Und mit der Rhein-Galerie sind die letzten Filialisten wie H&M, Tchibo oder Fielmann abgewandert. Die Innenstadt ist dadurch leerer geworden. Das ist unser Problem. Herr Dillinger, Herr Kehls Kritik habe Sie persönlich getroffen, sagen Sie – warum? Dillinger: Festgemacht habe ich die persönliche Betroffenheit daran, dass der Vorwurf im Raum stand, dass die Stadt – und das sind ja immer handelnde Personen – sich nicht ausreichend für den Einzelhandel einsetzt. Liegt Herr Kehl damit falsch? Dillinger: Wir als Stadt können nur Rahmenbedingungen schaffen, um etwa eine Rhein-Galerie auf unserem eigenen Gelände anzusiedeln oder um Kunden in die Stadt zu bringen, die hier auch wohnen wollen. Es geht darum, Baulücken wie am Lutherturm oder neben der Stadtbibliothek zu füllen. Wir können zwar Fußgängerzonen sanieren oder Fördergelder vermitteln, aber Einzelhandel anzusiedeln, das ist nicht unsere Aufgabe. Der Einfluss der Stadt und ihrer Tochter Wirtschaftsentwicklungsgesellschaft wird also überschätzt? Dillinger: Der wird überschätzt, gerade was die Ansiedlung von Facheinzelhandel oder Filialisten in bestimmten Bereichen oder Gebäuden angeht. Und zum Stichwort Rhein-Galerie: Vor deren Bau gab es Gutachten, Gespräche mit der Industrie- und Handelskammer sowie mit dem Einzelhandelsverband. Letztlich sind alle zu dem Schluss gekommen, dass die Rhein-Galerie der richtige Weg sei, um überhaupt wieder Menschen und bestimmte Angebote nach Ludwigshafen zu bringen – übrigens verbunden mit der Erkenntnis, dass dies einen tiefgreifenden Wandel der Innenstadt zur Folge haben wird. Und jetzt sind wir mittendrin. Gerade Ihnen als WEG-Chef muss es doch wehtun, wenn ein Traditionshaus wie Dörr sich verabschiedet? Dillinger: Das tut weh, klar. Aber ich muss auch zur Kenntnis nehmen, dass es in Mannheim offenbar genau die Zielgruppe für das Dörr-Sortiment gibt. Unser Job ist es, das Thema Wohnen und Arbeiten in der Innenstadt im Blick zu behalten und uns die Frage zu stellen: Wer bewegt sich hier, welcher Fachhandel und welche Dienstleistungen sind notwendig? Kehl: Am Rheinufer Süd beispielsweise hat die Stadt genau das Richtige gemacht. Leider kam das viele Jahre zu spät, aber besser spät als nie. So muss es weiterlaufen. Das würde ich mir auch für die Innenstadt wünschen. Neue, großzügig geschnittene Wohnungen. So schafft man Anreize. Herr Dillinger, würden Sie auch vom Aussterben der Innenstadt sprechen? Dillinger: Nein. Wie würden Sie es nennen? Dillinger: Umstrukturierung und nachhaltiger Wandel. Hier sind Wandlungsprozesse im Gange, die zwar im Einzelfall wehtun. Aber im Grunde ist das der Abschied von der Einkaufsinnenstadt, wie es sie in Ludwigshafen in den 60er-Jahren gab. Das ist ein schmerzhafter Prozess. Und Dörr ist ein Opfer davon? Dillinger: Das würde ich so nicht sagen. Wie würden Sie es ausdrücken? Dillinger: Dass Dörr die Innenstadt verlässt, ist zunächst einmal eine unternehmerische Entscheidung, die weder die Stadt noch die WEG unmittelbar beeinflussen können. Das ist der Gang der Dinge, wie er sich schon vor Jahren abgezeichnet hat. Zuletzt gab es gute und schlechte Nachrichten – die Technischen Werke werden den ehemaligen Kaufhof neu beleben. Anstelle der „Tortenschachtel“ entsteht ein modernes Geschäftshaus. Andererseits schließt der Real-Markt in der Walzmühe, und der Maschinenbauer Halberg macht seinen Betrieb dicht. Letzterer Wandel kann doch nicht in Ihrem Sinne sein? Dillinger: Dieser Wandel hat gewiss auch negative Seiten, aber ich glaube, dass die positiven überwiegen. Wenn die ehemaligen Kaufhäuser beziehungsweise die Nachfolge-Immobilien in der Bismarckstraße und am Berliner Platz in zwei, drei Jahren erst mal belegt sind, werden dadurch genau die Leute in die Stadt gelockt, die Herr Kehl aktuell vermisst. Das Real-Aus bietet tatsächlich die Chance für einen Neuanfang in der Walzmühle, wobei sich da in erster Linie der Betreiber Gedanken machen muss, wie sich das Center positioniert. Traurig ist die Entwicklung bei Halberg. Mit der Schließung des Standorts haben wir nicht gerechnet. Da muss man mal sehen, ob die 250 Jobs nicht doch noch irgendwie zu retten sind. Herr Kehl, Sie haben die Geschäftsführung zu Beginn der 90er-Jahre von Ihrem Vater Karl Heinz übernommen. Was war damals anders? Kehl: Damals waren wir in einer Umgebung mit vielen weiteren Geschäften. Und alle – auch direkte Mitbewerber – haben ihren Kundenstamm in die Stadt gezogen. Diese ganzen Magnete, die dort vereint waren, sind Schritt für Schritt verschwunden. Das ist ein linearer Prozess. Mein Vater hat die Firma seit 1962 geführt: In den 60er- und 70er-Jahren ging es stetig bergauf, in den 80er-Jahren war der Höhepunkt erreicht, in den 90er-Jahren war er überschritten. Ab da hat eine Abwärtsbewegung eingesetzt. Welche Rolle spielen da Branchengrößen wie Ikea oder Kibek, die sich im Umland niedergelassen haben? Kehl: Die haben immer eine Rolle gespielt, aber wir haben unser Sortiment angepasst, Nischen belegt, uns auf Sonderanfertigungen oder Teppiche nach Maß spezialisiert, was für die Großunternehmen zu umständlich ist. Komplizierte, beratungsintensive Aufträge – das ist unsere Stärke. Darauf werden wir uns künftig noch viel mehr konzentrieren. 2014 hat Dörr einen Umsatz von einer Million Euro gemacht, wie hoch war der Umsatz zehn Jahre zuvor? Kehl: Da waren’s 500.000 Euro mehr. Was läuft in Mannheim besser? Kehl: Wir haben viele Kunden, die nebenan im Restaurant essen sind oder einfach am Schaufenster vorbeischlendern – das sind genau die Leute, die hier in Ludwigshafen fehlen. Herr Dillinger, Sie sagen, im Umfeld von Dörr sei in den Vorjahren viel getan worden – der Effekt blieb aus. Dillinger: Das hat schon Effekte gehabt, aber nicht unbedingt in der Einzelhandelslandschaft. Im Fokus standen Wohnungs- und Gebäudesanierungen, auch mit Blick auf die Gastronomie wie in der Bahnhofstraße. Diese ganzen Dinge machen letztlich innerstädtisches Leben aus. Herr Kehl, wenn Sie und Ihre Kollegen aus dem Händlerverbund „Top in Lu“ sich mehr Hilfe seitens der Stadt wünschen, an was denken Sie da? Kehl: Mir geht’s da weniger um finanzielle Unterstützung, sondern um organisatorische Hilfen. Nennen Sie mal ein Beispiel. Kehl: Vor einigen Jahren wurde die seitliche Durchfahrt zu unserem Geschäft von der Stadt von heute auf morgen mit Pollern blockiert. Unsere Kunden kamen dadurch nicht mehr auf die Parkplätze. Wäre eigentlich schnell zu lösen gewesen, aber wir mussten fast ein Jahr mit der Stadt rumdiskutieren, bis eine Lösung gefunden wurde: eine Schranke, die tagsüber offen und abends geschlossen ist. Das war sehr nervenzehrend und anstrengend. So etwas muss schnell und unbürokratisch gelöst werden. Und das ist nur ein Beispiel. Herr Dillinger, gibt es da Defizite? Dillinger: An der einen oder anderen Stelle gibt es die sicher. Auch eine WEG ist nicht fehlerfrei. Aber der von Herrn Kehl geschilderte Fall ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Interessen des Händlers – Pfosten weg – und der Nachbarschaft – Nachtruhe – nicht immer so einfach vereinbar sind. Herr Kehl, wenn Sie auf der Straße ein Mann aus Hamburg anspricht, der zum ersten Mal in Ludwigshafen ist und Sie nach dem Charakter der Stadt fragt. Was antworten Sie ihm? Kehl: Ludwigshafen ist insgesamt eine sehr schöne Stadt mit viel Grün, es gibt gute Restaurants und teilweise auch gute Fachgeschäfte. Aber man muss die Perlen suchen und wissen, wo man sie findet. Man braucht jemanden, der sich auskennt. Dillinger: Man mus sich auf Ludwigshafen einlassen und interessiert sein. Wir haben Mannheim als traditionelle Einkaufsstadt für die ganze Region als direkten Nachbarn sowie ringsum attraktive Mittelzentren. Das sorgt für eine besondere Konkurrenzsituation, wie man sie wohl auch in manchen Stadtteilen in Hamburg kennt. Herr Kehl, was müsste geschehen, damit Sie eines Tages wieder nach Ludwigshafen zurückkehren? Kehl: Es müssten viele ordentliche Leute in die Stadt kommen, aus welchen Gründen auch immer. Wenn die Stadt voll ist, entsteht alles drumherum von allein. Aber man braucht einen Grund, um dort hinzufahren. In den Vorjahren sind die Gründe dafür abgebaut worden und verschwunden. Jetzt müssen neue Anreize geschaffen werden – das muss nicht zwangsläufig Einzelhandel sein. Menschen müssen hier gerne wohnen und arbeiten, sie müssen kurze Wege haben: zur Verwaltung, zum Arzt, zum Einkaufen oder zum Fachhandel. Darum kann etwas entstehen. Mit der Rhein-Galerie sollte ja genau diese Kundenfrequenz erzeugt werden. Ist das Center mit Blick darauf tatsächlich eine Erfolgsgeschichte? Dillinger: Ja, das ist eine Erfolgsgeschichte – der Zugang zum Rhein, die Strahlkraft aufs direkte Umfeld und das Umland kann man nicht wegdiskutieren. Und es gibt eine Vielzahl von Filialisten und Händlern in der Galerie, die es sonst in der Innenstadt nicht gäbe. Das ist meine tiefste Überzeugung. Die Rhein-Galerie ist daher ein zusätzlicher Anker, die Menschen wieder in die Stadt zu bringen. Kehl: Die Galerie mag eine Erfolgsgeschichte sein, aber sie hat ihren Tribut gefordert. Man hat diesen Erfolg mit einer leeren Innenstadt bezahlt.

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