Über den Kirchturm hinaus Die Sache mit der Sehnsucht

Annette Schulze
Annette Schulze

„Alles beginnt mit der Sehnsucht“, heißt es bei Nelly Sachs. An einem ganz gewöhnlichen Tag ist es mit meiner Sehnsucht nicht besonders weit her. Da bin ich in meinem Alltagstrott und sehne mich höchstens danach, dass der Tag zu Ende geht und ich ins Bett fallen kann. Vielleicht noch nach einer kleinen Abkühlung im Schwimmbad. Oder nach dem Urlaub, auf den ich mich freue. Aber Sehnsucht? Was soll denn mit ihr anders werden, was soll schon neu beginnen?

Das Leben scheint vorgezeichnet zu sein. Arbeit und Freizeit, Jahreszeiten, Feiertage, Begegnungen – viel mehr ist da doch nicht, und viel mehr ist auch nicht zu erwarten. Wonach sollten wir uns sehnen? Und doch spüre ich manchmal eine Unruhe in mir, die mich in Bewegung hält, die mich suchen lässt nach etwas, was mir einen Grund bietet, aus dem Hamsterrad auszusteigen und zu schauen, was denn da eigentlich los ist in meinem Leben. Vielleicht ist es Fernweh, vielleicht eher Heimweh – das Bedürfnis, bei mir selbst sein zu können und damit zufrieden zu sein.

Wenn überall vom Negativen gesprochen wird – in der Stadt, in der Gesellschaft, in der Kirche, dann nehmen wir immer mehr auch das Negative wahr. Im Kleinen wie im Großen stellen wir fest, dass Menschen sich weniger engagieren, weniger Verantwortung übernehmen wollen, weniger das Miteinander im Blick haben als sich selbst. Aber tief in uns haben wir den Wunsch, dass Leben etwas Gutes, etwas Gemeinsames wird – dass es mehr gibt als nur ein „Ich“ mit all den Grenzen, die wir an uns selbst erfahren. Vielleicht ist das die Sehnsucht. Der Drang, etwas in Bewegung zu bringen, dem Leben auf die Sprünge zu helfen und etwas Sinnvolles zu tun.

Solange diese Sehnsucht lebendig ist, ist auch Hoffnung da: Sehnsucht lässt uns auf dem Weg bleiben, lässt uns miteinander nach Wegen suchen. Zu mehr Gerechtigkeit, mehr Toleranz, mehr Achtung vor jedem Menschen. Die Sehnsucht lässt uns neue Schritte wagen für den Klimaschutz, für Menschen in Not, für das Leben.

Vielleicht ist die Sehnsucht tatsächlich die Triebfeder für Neues, für neue Anfänge – im Miteinander –im großen Ganzen und im ganz persönlichen Leben. In diesem Sinne wünsche ich uns Sehnsucht und immer wieder einen Neubeginn!

Die Autorin

Pastoralreferentin Annette Schulze arbeitet in der Klinikseelsorge der BG Klinik Ludwigshafen.

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