Mannheim Nationaltheater: Hausautorenschaft für Leonie Lorena Wyss

Hat viele Pläne für die Zeit in Mannheim: Leonie Lorena Wyss.
Hat viele Pläne für die Zeit in Mannheim: Leonie Lorena Wyss.

Wenn man dem Mannheimer Nationaltheater eines nicht nachsagen kann, dann das: nicht nah an den Debatten der Gegenwart zu sein. Die Hausautorenschaft geht in der nächsten Spielzeit an Leonie Lorena Wyss, eine sich als nichtbinär identifizierende Person, die eine ganz eigene Stimme einbringen wird.

Der Name Leonie Lorena Wyss ist im Moment in aller Munde. Vergangene Woche eröffnete die Uraufführung des im Jahr zuvor mit dem Autor*innenpreis ausgezeichneten Dramas „Blaupause“ den 41. Heidelberger Stückemarkt, eines der wichtigsten deutschen Festivals für Gegenwartsdramatik. „Blaupause“ erzählt eine Coming-of-Age-Geschichte, vom Erwachsenwerden einer jungen queeren Person, von Leben und Tod. Es geht in Wyss’ Stück um die Pubertät, um Sex, Gewalt, lesbische Liebe, um Trauer, um alles. Das Drama erzähle, urteilte die Jury vor einem Jahr, „wie es ist, in einer von alten Strukturen dominierten Gesellschaft sein Leben selbst zu bestimmen“.

„Dinge, die bisher kaum verhandelt wurden“

Im Grunde passt dieser Satz ganz genau auf das Leben und die Arbeit von Leonie Lorena Wyss. Als junge queere Person bringt sie eine neue Perspektive in die mehrheitlich männlich dominierte, weiße und heteronormative Gesellschaft und in den Theaterbetrieb, der Teil dieser Gesellschaft ist. „Bestimmte Perspektiven sind extrem unterrepräsentiert“, sagt Wyss beim Videotelefonat kurz vor der Heidelberger Premiere. „Ich freue mich, Dinge verhandeln zu können, die bisher kaum verhandelt worden sind.“ Und gleichzeitig bringt Wyss genau das – eine Minderheit zu repräsentieren – in ein Dilemma: „Ich möchte nicht auf das Queerness-Thema reduziert werden. Manchmal habe ich das Gefühl, dass alle Texte biografisch gelesen werden, die nicht ein weißer Cis-Mann geschrieben hat.“ So toll und richtig es sei, marginalisierten Stimmen Gehör zu verschaffen: Das müsse nachhaltig geschehen, sagt Wyss, und Institutionen wie Theater langfristig verändern.

„Es geht mir nicht darum, mich ständig an meiner lesbischen Identität abzuarbeiten“, sagt Leonie Lorena Wyss sehr plastisch, „sondern darum, mit Sprache und mit Texten zu arbeiten.“ Und das tut dieser Mensch sehr erfolgreich. Der Preis des Heidelberger Stückemarkts ist einer von vielen, mit dem Wyss’ Arbeit in den vergangenen Jahren gewürdigt wurde. Geboren 1997 in Basel und aufgewachsen auf der deutschen Seite des Dreiländerecks Frankreich-Deutschland-Schweiz, studierte Wyss nach dem Abitur Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim und Madrid, gefolgt von einem Master-Studium der Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien, das es noch abzuschließen gilt, zudem gibt Wyss dort Workshops in politischer Bildung. „Deswegen werde ich auch nicht ein ganzes Jahr komplett in Mannheim verbringen können“, sagt Leonie Lorena Wyss zur kommenden Hausautorenschaft, „aber ich werde mir trotzdem viel Zeit dafür nehmen und immer wieder länger dort sein. Ich habe ein großes Interesse an Mannheim.“

Für das Nationaltheater entwickelt Wyss ein bisher noch titelloses und nur als Rohentwurf existierendes Stück, das im Januar 2025 Premiere haben und von einer weiblich gelesenen Person handeln soll, die an einer chronischen Erkrankung leidet und deren körperliche Schmerzen nicht ernst genommen werden. Gemeinsam mit dem Stadtensemble, der Bürgerbühne des Nationaltheaters, entwickelt Wyss ein „Räuber*innen“-Projekt für die nächste Ausgabe der Internationalen Schillertage im Sommer 2025. Auf die Arbeit und auch auf die Reaktionen des Mannheimer Publikums darf man gespannt sein – schließlich ist man in der Stadt stolz darauf, Ort der Uraufführung von Schillers „Räubern“ im Januar 1782 gewesen zu sein.

Auf den Spuren Friedrich Schillers

Friedrich Schiller war 1783/1784 auch der erste Mannheimer Theaterdichter und damit einer der Vorgänger von Leonie Lorena Wyss. Nach gut 200 Jahren Pause ist das Format wiederbelebt worden. Finanziert von den Freunden und Förderern des Theaters, erhalten die Hausautoren für eine Spielzeit ein Stipendium. Der erste war 1996/1997 Albert Ostermaier, gefolgt von teils sehr prominenten Kollegen und Kolleginnen wie Feridun Zaimoglu und Theresia Walser. Einige Hausautorinnen und Hausautoren aus der jüngeren Vergangenheit nennt Leonie Lorena Wyss als wichtig für ihr eigenes Schreiben: Sivan Ben Yishai, Necati Öziri oder Amir Gudarzi, der aktuelle Hausautor bis zum Ende dieser Spielzeit. Mit Sprache umzugehen, Figuren zu erschaffen, einen Rhythmus zu kreieren, mit Ebenen, Formen, Genres und Musik zu spielen: „Ich liebe das“, sagt Leonie Lorena Wyss.

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