Ludwigshafen Schwachmat jenseits der Sahnetorte

Ich heule selten – neulich war es aber so weit. Genauer gesagt: am Freitagabend im Feierabendhaus der BASF. Dort war BAP mit ihrem charismatischen Kopf Wolfgang Niedecken zu Gast, der letzte Mohikaner aus der Originalbesetzung. Schon beim ersten Lied „Frau ich freu mich“ kullerte mir eine Träne über die Backe. Zunächst wusste ich nicht so recht, was mich so tief berührte. Eingefleischter Fan der Kölner Südstadt-Rocker war ich nie. Dennoch kenne ich fast jedes Stück aus den letzten 40 Jahren, bin damit groß – und ja – auch erwachsen geworden. Mit Songs, die immer mehr waren als Ohrwürmer und trotz des kölschen Kauderwelschs bundesweit zu Hits wurden. Songs, die wie das Leben sind: mutig-kraftvoll, traurig-schön. Die der Gesellschaft den Spiegel vorhalten, Botschaften haben, aber nie klugscheißerisch daherkommen. Gute Mucke halt. Vertont von einer auch handwerklich außergewöhnlichen Band, die einen Frontmann hat, der nach seinem Schlaganfall vor fünf Jahren – zum Glück – wieder voll im Saft steht und auch zwischen den Liedzeilen die richtigen Worte findet. Etwa wenn er sagt, wie wunderbar es ist, dass die Kölner ihre Stadt, die wahrlich nicht die schönste sei, vorbehaltlos liebten (Ludwigshafener sollten sich daran ein Beispiel nehmen). Vorbehaltlose Liebe in einer hasserfüllten Zeit – kann es Schöneres geben? Niedecken ist einer, der mit Blick auf die US-Wahl von einem „Schwachmat in Amerika“ spricht. Der an seine Zuhörer appelliert, die hungernden und gepeinigten Menschen im Ostkongo und im Südsudan nicht zu vergessen. Der zu Beginn des über dreistündigen (!) Konzerts die Namen der vier Todesopfer des BASF-Unglücks vorliest und ihnen die erste Nummer widmet. Den es irritiert, dass die Leute nur noch Selfies mit ihm machen, aber weder Autogramme von ihm haben, geschweige denn mit ihm ins Gespräch kommen wollen. Der beim Finale wegen des nicht enden wollenden Beifalls sogar tanzt, obwohl ihm das eigentlich ein Gräuel ist. Der einen riesigen Spaß hat an dem, was er tut. Der die ausgelassene Stimmung komplett aufsaugt. Und den es gleichzeitig sehr bedrückt, dass eines seiner bekanntesten Werke („Kristallnaach“, 1982) heute leider aktueller denn je ist. Ja, mit 65 ist Niedecken deutsche Rockgeschichte – und ein grauer Wolf. Ihn das erste Mal live zu erleben, ging mir nahe. Vielleicht, weil ich mir gewünscht habe, dass so einer wie er, von denen wir viel zu wenige haben, nicht altert. Und mir nebenbei bewusst wurde, dass auch ich nicht jünger werde. Vielleicht aber auch, weil seine Musik Erinnerungen in mir weckt. An jenen heißen Sommertag etwa, als ich an einer Haltstelle auf den Schulbus wartete und ein knallgelber Opel Manta mit fetten Reifen und heruntergekurbelten Fenstern wie in Zeitlupe an mir vorbeirollte. Aus den Boxen wummerte die BAP-Hymne „Verdamp lang her“, die bis heute nichts an ihrer Intensität eingebüßt hat. Für mich ein Bild für die Ewigkeit, ohne dass ich genau erklären kann, warum. Aber es hat mit BAP zu tun. Beeindruckt hat mich als Möchtegern-Schlagzeuger auch das „Küken“ (Niedecken) der Truppe, der fulminante Mann an den Drums, der an der Mannheimer Popakademie zum Profi reifte: Sönke Reich. Mit Mitte 30 ist er jünger als viele BAP-Platten, aber dennoch schlagfertig – nicht nur in instrumentaler Hinsicht. Beim Soundcheck, erzählte Niedecken amüsiert, meinte Reich zum festlichen Interieur des Feierabendhauses. „So muss eine Sahnetorte von innen aussehen.“ Vielleicht wird ja mal ein Lied draus. Die Kolumne Fünf Redakteure berichten für die RHEINPFALZ über Ludwigshafen. Ihre Erlebnisse aus dem (Arbeits-)Alltag nehmen die Redakteure in der Kolumne „Quintessenz“ wöchentlich aufs Korn.

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