Ludwigshafen Swingende Wut

Um halb zehn abends ist es ein richtiger Ohrwurm, den der Chor für Wohnungssuchende zu Posaune und Melodica leidenschaftlich durch die offene Balkontür hinausschmettert: „Und hier in Ludwigshafen können wir nicht sorglos schlafen, denn der Lohn reicht nicht einmal für ’ne Wohnung mit Licht!“ Zufrieden lassen die rund 25 Laien-Sänger den Abend mit ein wenig Fachsimpelei ausklingen. Das hätten sie nicht gedacht: dass sie in so kurzer Zeit einen wirklich guten Popsong zustande bekommen. Noch dazu zu einem so ernsten Thema. Doch drehen wir die Uhr dreieinhalb Stunden zurück. „Anlegen! Ankern! Wohlfühlen! Für Alle!“ Die Chorsänger lockern ihre Stimmbänder, während Roland Vanecek am Keyboard und sein Bruder Bernhard an der Posaune Dutzende Male die Refrain-Zeile anspielen. Noch immer trudeln Neuankömmlinge in den Seminarraum der Hochschule in der Maxstraße ein. Jeder wird mit Umarmung begrüßt, alle duzen sich. Wer hier wen eingeladen hat? Die drei anwesenden Musiker, die Hochschulprofessorin? Egal, es ist familiär, auf zwei Tischen stehen Getränke, Obst und Kekse bereit. „Es ist euer Lied!“, lässt Sängerin Coco SaFir keinen Zweifel daran, dass für die Entstehung jeder mitverantwortlich ist. Alle sollen mit grüner und roter Karte für jede Zeile ihr Einverständnis oder ihre Ablehnung kundtun. Drei oder vier fetzig klingende Strophen zum Thema „schwierige Wohnungssuche“ sollen heute getextet und gesungen werden. Das ist der ambitionierte Plan. Den Refrain hat die Gruppe in einem ersten Workshop vor ein paar Wochen schon festgelegt. „Zuerst brauchen wir ein wiederkehrendes Verbindungsstück mit unserer Hauptbotschaft“, ruft Coco SaFir die Gruppe auf. Anica Skibba vom Kunstverein und Andrea Lutz-Kluge, Professorin und Medienwissenschaftlerin an der Hochschule, haben über 60 von Studierenden am Berliner Platz gesammelte Beschwerden über die angespannte Wohnungssituation an die Wand projiziert. Laut rufen die Chorsänger sich die Botschaften der aufgelisteten Beschwerden zu. Aus sperrig klingenden Statements werden allmählich brauchbare Textzeilen. „Ist Wohnen nicht ein Recht für alle?“, sagt eine junge Frau im Hintergrund zaghaft. Coco SaFir spricht die Zeile laut und rhythmisch nach, versucht mit klingenden Vokalen die Worte zu formen. „Jawohl, das ist es“, jubelt sie, „da haben wir unsere Bridge.“ Allmählich bekommen alle ein Gespür dafür, was groovt und auf Zuhörer aufweckend wirkt. In den Beschwerdetexten sind viele sperrige Begriffe aus der grauen Verwaltungswelt: Einweisungsgebiete, Prüfauftrag, Investoren, Immobiliengesellschaft. Nach kurzer Zeit haben die Chorsänger das Prinzip des Textens verstanden, es wird konkret. „Bayreuther Straße, schlechte Adresse, Stigmatisierung, wie komm ich hieraus“, schreibt Anica Skibba als Strophenbeginn für alle an der Wand sichtbar auf. „Seid Ihr damit einverstanden?“, fragt Coco SaFir. Ausschließlich grüne Kärtchen schnellen nach oben. „Oranienstraße, hier lebt der Koran“, sang in den Achtzigern die Band Ideal. Ganz so romantisch klingt es heute nicht. Die Vanecek-Brüder und Coco SaFir, alles Profimusiker und auf klassischen wie Pop-Bühnen zu Hause, stehen für mitreißende Klänge. „Das ist Balkan-Swing, Rap und Jazz in einem“, erklärt Bernhard Vanecek die bewusst für diesen Chor ausgewählte Liedstruktur, während er lässig aus dem Handgelenk mit dem Shaker die treibenden Beats entfacht. Wer singt mit im Chor für Wohnungssuchende? Bürger aus der Region, die dem Aufruf des Kunstvereins gefolgt sind. Ludwigshafener Stimmen, die gegen den ungerechten Wohnungsmarkt protestieren. Dabei sind auch Studierende der Ludwigshafener Hochschule und Mitglieder des Ludwigshafener „Aktionskreis Wohnen“. Lina Niklas vom Arbeitskreis kritische Sozialarbeit ist begeistert von der emotionalen Kraft des gerade entstehenden Liedes. „Faszinierend, wie aus umständlichen Textblocks starke Verse werden, die ich aus voller Brust singen kann“, sagt er. Mitsänger Uwe Lieser, der Leiter des Café Asyl, ist ebenfalls von der Arbeit mit den drei Musikern beeindruckt. Matthias Heiny improvisiert immer wieder mit seiner kräftigen Stimme spontan um die eigentliche Melodielinie. Hochschul-Vizepräsidentin Ellen Bareis hat sich ebenfalls mitreißen lassen: „Die Beschwerden bekommen Klang und Rhythmus.“ Der Workshop steuert seinem Ende entgegen. „5 Minuten 20 Sekunden“, verkündet Coco SaFir, die die letzte, stimmlich und auch rhythmisch gelungene Fassung auf ihrem Smartphone aufgenommen hat. Tatsächlich sind es vier Strophen geworden. Alle sind gespickt mit würzigen Aussagen und vor allem viel Herzblut aller Teilnehmenden. Termin Am Sonntag, 16. Juni, ab 12 Uhr will die Gruppe gemeinsam durch Ludwigshafen ziehen und den Song an mehreren Plätzen in der Innenstadt und auf der Parkinsel als Flashmob aufführen. Start ist am Kunstverein, Bismarckstraße 44-48.

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