Ludwigshafen Viele kleine Siege

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Ludwigshafen

. Markus Reiche läuft an die große Waschmaschine in der Wäscherei der Ludwigshafener Werkstätten in Oggersheim. Er öffnet sie, zieht eine Menge Handtücher heraus, verfrachtet diese auf einen Wagen. Jeder Handgriff sitzt, alles geht sehr schnell. Ohne Anweisungen, ohne Hilfestellungen. Dann schnappt sich Reiche den Wagen und schiebt diesen weg. Einige Sekunden später steht er, mit einem neuen Wagen voll mit dreckigen Handtüchern, schon wieder vor der Maschine. Er befüllt sie, schließt das Fenster, drückt den Startknopf. Die Waschmaschine läuft wieder. „Perfekt gemacht“, lobt Marc Lautenschläger, Gruppenleiter der Wäscherei. Reiche nickt nur – und lächelt erfreut. Der 25-Jährige leidet am Noonan-Syndrom, einer genetischen Entwicklungsstörung, die unter anderem Probleme bei der Artikulation zur Folge haben kann. Markus Reiche kann deshalb nur wenige Worte, nur ganz kurze Sätze sprechen. Besonders schwer fällt ihm das, wenn ihm der Gesprächspartner – noch dazu ein fremder – direkt gegenübersteht. Man muss daher vor allem mit anderen Menschen über Markus Reiche sprechen, um etwas über den Menschen Markus Reiche zu erfahren. Beispielsweise mit Lautenschläger. Oder mit Martina Florschütz-Ertin. Die Fachdienstleiterin der Ludwigshafener Werkstätten kennt nicht nur Reiche gut. Sie kennt auch viele ähnliche Fälle wie den des Oppauers. Sie kann lange darüber erzählen, wie schwierig es Menschen haben, die nicht nur an einer Behinderung leiden, sondern auch nicht sprechen können. „Wenn einem die Sprache fehlt, fehlt ein wichtiger Teil, um sich mitzuteilen“, sagt sie. Menschen wie Reiche haben daher meistens große Probleme, Freunde oder eine Partnerin zu finden. „Sie sind oftmals Einzelgänger, suchen sich Tiere als Freundschaftsersatz“, sagt Florschütz-Ertin und schaut dabei ganz traurig. Auch Markus Reiche hat Tiere. Zwei Hunde und drei Katzen. Er versorgt sie, geht mit den Hunden Peppels und Balu, einem Malteser-Geschwisterpaar, mehrmals am Tag Gassi. Sogar morgens, bevor er zur Arbeit in die Wäscherei kommt. Er pflegt eine besondere Beziehung zu ihnen. Nachdem 2008 sein Mischlingshund Rocky gestorben war, mit dem er aufwuchs, war er lange Zeit sehr traurig, erzählen die Eltern. Bis ein Jahr später Peppels und Balu kamen. Irgendwie ist es schwer vorstellbar, dass dieser heute so lebensfroh wirkende junge Mann so lange so traurig war. Denn an dem Tag im Dezember, an dem man ihn begleitet, macht er alles andere als einen traurigen Eindruck. Eher den Eindruck eines aufgeweckten jungen Mannes, der seine Arbeit sehr selbstständig, ruhig und gewissenhaft erledigt, pfiffig wirkt. Wenn man den 25-Jährigen in der Wäscherei beobachtet, fällt auf den ersten Blick gar nicht unbedingt auf, dass er eine Behinderung hat. „Er ist wissbegierig und versucht, seine Beeinträchtigung auszugleichen“, sagt Florschütz-Ertin. Sie traut Reiche noch einige Entwicklungsschritte zu. Das alles war heute vor 25 Jahren, am 24. Dezember 1990, nur schwer vorstellbar. Vier Monate zuvor war Reiche auf die Welt gekommen. Bei der Geburt hatte es eine Hirnblutung gegeben. Die Ärzte prophezeiten ihm damals nur ein kurzes Leben, glaubten, dass er nie würde laufen lernen. 30 Mal wurde er in den ersten sieben Lebensjahren operiert. So auch an jenem 24. Dezember 1990, an dem ein Eingriff am Herzen erfolgte – Herzfehler sind typisch für das Noonan-Syndrom. Bei jener Operation ging es um Leben oder Tod. Reiche überlebte den Eingriff. Er ist ein Kämpfer. Wie ein Stern, der immer weiter leuchtet. Einer, der sich über alle schlechten Prognosen hinwegsetzte. Einer, dem man nicht Mut zusprechen musste, der vielmehr seinen Eltern Mut machte. Vermutlich hat er sich auch deshalb so gut entwickelt, vor allem in der letzten Zeit. Beispiel eins: Reiche wird nicht wie viele andere, die in den Ludwigshafener Werkstätten arbeiten, jeden Morgen vom Fahrdienst der Werkstätten zu Hause in Oppau abgeholt. Reiche fährt alleine. Erst mit der Straßenbahn, dann mit dem Bus. Gegen halb acht ist er da, die Arbeit beginnt um 7.50 Uhr. Reiche habe, so erzählt Lautenschläger, keine Angst, den Weg nicht zu finden. Beispiel zwei: Seit August dieses Jahres hat Reiche ein Smartphone. Er hat gelernt, über den Messenger-Dienst WhatsApp Nachrichten zu verschicken. Er kann zwar keine Wörter und Sätze schreiben, weil er weder lesen noch schreiben kann. Aber er hat sich beigebracht, sich mittels der Emoticons-Symbole mitzuteilen. Beispiel drei: Wenn er seinem Gegenüber bei der Konversation nicht direkt ausgesetzt ist, spricht er kurze Sätze. Er kann also beispielsweise auf dem Heimweg zu Hause anrufen und sagen, dass er nun im Bus sitzt. Wenn man sich mit Florschütz-Ertin oder Lautenschläger länger über Reiche unterhält, ist es zeitweise so, als rede man über Lucas Maier oder Michael Müller. In vielem ist er wie junge Männer seines Alters. Reiche schaut in seiner Freizeit gerne Filme, spielt gerne und viel an der Playstation. Den Umgang damit hat er sich selbst beigebracht. Und dann ist da ja noch der Fußball. Nicht nur auf der Playstation spielt er am liebsten Fußballspiele. Kicken ist auch im richtigen Leben sein großes Hobby. Jeden Freitagnachmittag trainiert die Mannschaft der Ludwigshafener Werkstätten. Reiche fehlt bei den Übungseinheiten eigentlich nie. Wenn man versucht, sich mit Reiche über Fußball zu unterhalten, hat man das Gefühl, dass seine Augen ein bisschen mehr leuchten. Alleine der Gedanke an einen Ball zaubert schon ein Lächeln in sein Gesicht. Er versucht dann, Antworten auf die Fragen zu geben. Trotz des direkten Gegenüberstehens mit dem Gesprächspartner. So erfährt man beispielsweise, dass er Fan des 1. FC Kaiserslautern ist, auf der Playstation aber am liebsten Bayern München wählt – wegen der besseren Erfolgsaussichten. „Fußball hat eine sehr große Bedeutung für ihn“, sagt Lautenschläger, der nicht nur sein Chef in der Wäscherei ist, sondern auch die Betriebsstätten-Fußball-Auswahl trainiert: „Man merkt ihm die Freude immer an. Er ist ein kleines Schlitzohr, versucht immer am Ball zu sein.“ Reiche hat mit den Ludwigshafener Werkstätten schon an mehreren Turnieren teilgenommen, einmal hat er mal den Pokal für den besten Torschützen gewonnen. 2014 war das. Der steht seitdem zu Hause auf seinem Schreibtisch. Der Ball, wenn auch ein Tennisball, spielte schon eine wichtige Rolle, als er Laufen lernte. Reiche war neugierig, wollte es irgendwie immer zu dem gelben Filzball schaffen – und schaffte es irgendwann auch, setzte sich einfach über die Prognosen der Ärzte hinweg. Es war einer der vielen kleinen Siege eines bemerkenswerten Kämpfers.

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